Es ist eines der gesellschaftlichen Schlagworte der vergangenen Jahre: Cancel Culture. Was bedeutet das, jemanden zu canceln und vor allem: Sollten wir das tun?
Cancel Culture – der schmale Grat
Als Cancel Culture wird der gesellschaftliche Ausschluss von Personen bezeichnet, denen beleidigende oder diskriminierende Aussagen oder Handlungen vorgeworfen werden. Dieser Ausschluss beginnt meist mit Aufmerksamkeitsentzug in den sozialen Medien, kann aber für die Gecancelten weitreichendere Folgen bis hin zur Kündigung haben. Ein Beispiel: Boris Palmer, Grünen-Oberbürgermeister von Tübingen, sieht sich nach rassistischen Aussagen über den ehemaligen deutschen Nationalspieler Dennis Aogo, der gerade selbst wegen unangemessener Wortwahl seinen Posten als Experte bei Sky räumte, mit einem möglichen Parteiausschluss von den Grünen konfrontiert. Über Facebook ließ Palmer seine Abonnent:innen nach einer Welle an Kritik wissen, dass seine Aussagen satirisch gemeint waren, die Rassismusvorwürfe gegen ihn wären absurd und haltlos. Weil Humor und Satire bekanntlich alles dürfen, kann man sich mit dem Argument, problematische Aussagen nicht ernst gemeint zu haben, schnell der Verantwortung über seine Worte entziehen. Palmer merkte in seinem Facebook-Posting außerdem an, dass er sich gegen Cancel Culture „mit jeder Faser seines politischen Daseins“ wehre und dass er Ächtung und Existenzvernichtung wegen einer falschen Wortwahl niemals akzeptieren werde.
Diskriminierung ist keine Meinung
Er reiht sich damit in den Grundtenor der Äußerungen vieler Cancel-Culture-Kritiker:innen ein: Die Meinungsfreiheit ist in Gefahr, was darf man denn überhaupt noch sagen? Was er in seiner Argumentation vergessen hat: Diskriminierung wird nie eine Meinung sein. Die eigene Freiheit endet dort, wo man beginnt, die eines anderen Menschen einzuschränken, indem man ihn erniedrigt, beleidigt oder diskriminiert. Aber unsere Welt ist eben nicht schwarz und weiß und der Versuch, misslungene Satire oder eine ungeschickte Formulierung und Diskriminierung voneinander zu unterscheiden, erweist sich nicht selten als Gratwanderung. Wir bewegen uns zwischen Sätzen wie „Das darf man wohl noch sagen“ als Legitimierung für Sexismus und Rassismus und zwischen einer Kultur des Auslöschens unpassender Meinungen. Wie kommen wir da bloß wieder raus?
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Die Debatte über das Canceln
An unserer Gesellschaft geht das Phänomen Cancel Culture natürlich nicht spurlos vorbei, sondern wird eifrig diskutiert. Das Thema scheint die Debattierenden in zwei Lager zu spalten: pro Meinungsfreiheit und pro Diskriminierungsfreiheit. „Gibt es denn wirklich nichts dazwischen? Geht denn nicht beides?“ mag man sich jetzt fragen. Doch wer nach der goldenen Mitte zwischen den beiden Gegenparts sucht, wird enttäuscht auf einen tiefen Graben stoßen, der sich mittlerweile zwischen Cancel-Culture-Befürworter:innen und -Gegner:innen gebildet hat. Erstere behaupten, Cancel Culture würde es in Wahrheit gar nicht geben, letztere zeigen sich besorgt um die Meinungsfreiheit, eine der wichtigsten Säulen einer Demokratie. Die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo dazwischen. Cancel Culture gibt es jedenfalls, so viel steht fest.
Kündigung nach Kritikwelle
Was für weitreichende Konsequenzen Cancel Culture nach sich ziehen kann, sieht man am Beispiel David Shor. Der amerikanische Datenwissenschaftler verlor seinen Job, nachdem er im Zuge teilweise gewaltvoller Demonstrationen im Rahmen der „Black Lives Matter“-Bewegung im letzten Jahr die Studie eines Princeton-Professors in einem Tweet zusammenfasste: Demnach haben bereits 1968 gewaltvolle Ausschreitungen bei Demonstrationen dem damaligen republikanischen Präsidentschaftskandidaten Richard Nixon in die Hände gespielt, während friedliche Proteste einen Stimmenzuwachs für die Demokrat:innen zur Folge hatte. Twitter-User:innen kritisierten Shor dafür, dass er in diesem Zusammenhang versuchte, für eine Partei zu werben, die zu wenig für die Community getan habe. Shors Arbeitgeber, eine Firma, die der Demokratischen Partei mittels Datenanalysen zu Wahlsiegen verhelfen soll, kündigte ihn nach der Kritikflut auf Twitter. Nachdem bekannt geworden war, dass er aufgrund des Tweets seinen Job verloren hatte, drückten einige User:innen ihr Mitgefühl gegenüber Shor aus.
Für mehr Empathie, weniger Cancel Culture
Eben diese Empathie ist es, was uns fehlt – auf beiden Seiten. Diskriminierung hat keinen Platz in unserer Gesellschaft. Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen andere unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit ungerecht behandeln. Diskriminierung muss Konsequenzen nach sich ziehen – auch schwerwiegende, wenn sie gerechtfertigt sind. Aber Menschen, die einen Fehler gemacht haben und diesen einsehen, verdienen unser Mitgefühl und unser Wohlwollen. Vor Kurzem sprach sich auch der ehemalige US-Präsident Barack Obama in einem CNN-Interview gegen Cancel Culture aus und sagte, dass sie teilweise zu weit gehen würde. Vor allem junge Menschen im akademischen Milieu würden Gefahr laufen, andere zu hart zu verurteilen. "Das ist kein Aktivismus", so Obama. Im Fall von David Shor kann man sich darüber streiten, ob das Veröffentlichen der Studie in diesem Kontext angemessen war. Die Konsequenzen waren es jedenfalls nicht. Brauchen wir also Cancel Culture? Nein. Denn sie hilft uns nicht, das wahre Problem, Diskriminierung in jeglichen Formen, zu bekämpfen. Was wir stattdessen brauchen, ist mehr Empathie und Respekt für andere. Nach wie vor ist das die Essenz einer Gesellschaft, in der jede:r gleich viel wert ist.
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