Andrea Nahles, die frisch zurückgetretene SPD-Chefin, wird ausgerechnet von vielen Frauen abgelehnt. Warum? Unsere Autorin vermutet: weil für Frauen immer noch eine andere Währung gilt – Nettigkeit, Sanftmut, Anpassung.
Das Nahles-Problem: Ein generelles Frauen-Problem?
Aktuell zum Rücktritt von SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles erinnern wir an einen Emotion-Artikel aus dem letzten Jahr über ein Phänomen, das uns rätselhaft erschien, den Nahles-Effekt. Über die Ablehnung einer selbstbewussten Frau.
"Ich verstehe es nicht. Warum mögen die Leute – nein, warum mögen Frauen Andrea Nahles nicht? Zum ersten Mal in der 150-jährigen Geschichte steht eine Frau an der Spitze der SPD und niemanden scheint's zu freuen. Nahles war eine erfolgreiche Arbeitsministerin, sie erkämpfte den Mindestlohn, gilt als tolle Chefin, politische Gegner sprechen voller Respekt von ihr. Nur beim Wähler, bei den Wählerinnen, kommt die Politikerin nicht an. Ihre Beliebtheitswerte waren noch nie gut, aktuell liegt sie gerade mal vor den Buh-Männern Seehofer, Lindner, Gauland.
"Mir ist sie zu aggressiv"
Natürlich kann man argumentieren, dass die SPD nicht die beste Zeit hat und die Partei selbst sich an ihre "Boys Club"-Strukturen geklammert hat. Aber eine kurze Umfrage zu Nahles unter Freundinnen und im Büro zeichnet noch ein anderes Bild: "Warum muss sie Interviews im Clown-Kostüm geben?", "Ich fand's peinlich, wie sie im Bundestag gesungen hat", "Mir ist sie zu aggressiv", "Die ist so anstrengend", "Ich mag die einfach nicht".
Wie kann es sein, dass all diese Kommentare so wenig mit ihrer Arbeit zu tun haben? Es ist paradox: In keiner Zeit war die Sehnsucht nach einem diverseren Frauenbild größer. Egal ob im Kino oder im echten Leben, niemand hat mehr Bock auf die alten Rollenklischees. Auch bei unserer Aktion "Was Frauen fordern" sprechen sich 30 Prozent der Befragten gegen veraltete Rollenbilder aus. Der Wunsch ist ehrenwert, doch wieso tun wir uns dann im echten Leben so schwer mit Frauen wie Nahles – ehrgeizig, durchsetzungsstark, kein bisschen lieb?
Wir bevorzugen Menschen, die uns ähnlich sind
"Menschen sind soziale Tiere, früher haben wir in kleinen homogenen Gruppen gelebt, da musste schnell entschieden werden, wer Freund und Feind ist", sagt Dr. Laura Wendt, Neurowissenschaftlerin und bei der Unternehmensberatung A. T. Kearney für Diversity & Inclusion zuständig. Diese Automatismen liefen auch heute noch unterbewusst ab. "Deshalb bevorzugen wir Menschen, die uns ähnlich sind", erklärt mir Dr. Laura Wendt.
Dieser Chamäleon-Effekt ist das erste Hindernis für Frauen. Wenn Männer 80 bis 90 Prozent der Top-Jobs besetzen, ist es "für Frauen schon eine Herausforderung, überhaupt eine andere Frau zu finden, mit der sie sich identifizieren kann", weiß die Wissenschaftlerin. Dadurch überfrachteten wir Frauen in Top-Positionen mit Erwartungen: Wenn da schon mal eine ist, soll die bitte meinen Vorstellungen entsprechen! "Wir verzeihen Frauen Fehler weniger als Männern", sagt die US-Psychologin und Autorin Phyllis Chesler ("Women's inhumanity to women").
Der Prototyp eines Chefs? Immer noch ein Mann
Wie unterschiedlich wir Männer und Frauen bewerten, zeigt ein Versuch der Columbia Business School: Studenten wurde der Lebenslauf von Howard Roizen vorgelegt: Risiko-Investor im Silicon Valley, der erfolgreich Tech-Unternehmen gegründet hat, Apple- Manager und im Vorstand renommierter Unternehmen war, befreundet mit Bill Gates. Die Studenten sollten sagen, ob sie ihn für kompetent halten und einstellen würden. Alle urteilten: Kompetenter Kerl, wir mögen ihn – natürlich wird er eingestellt!
Was die Studenten nicht wussten: Howard heißt in Wahrheit Heidi. Bei der Gegenprobe empfanden sie Heidi zwar als kompetent, aber unsympathisch – keiner wollte sie einstellen. Was man Howard als visionär und selbstbewusst auslegte, wertete man bei Heidi als ehrgeizig und eitel. Die härteste Währung für Frauen ist also: Sie müssen gemocht werden – sonst geht der Weg nicht weiter.
"Weil Frauen wie Heidi Roizen und Andrea Nahles gegen das stehen, was wir stereotyp für weiblich halten, können sie kaum gewinnen", erklärt Dr. Laura Wendt. Der Prototyp einer Führungspersönlichkeit ist in unseren Köpfen immer noch ein Mann; von Frauen erwarten wir nach wie vor, dass sie fürsorglich und sozial sind und um sich herum Wohlbefinden verbreiten.
Die Königin muss alles haben: Kinder, Karriere, gutes Aussehen
Doch da beißt sich die Katze in den Schwanz: Um das zu erreichen, müssen wir nett sein, doch wenn wir nett sind, wirken wir nicht kompetent. Schon allein dieses Problem ist für die einzelne Frau nicht lösbar. Zu den alten Stereotypen hat sich als Leitbild für "moderne" Frauen noch die sogenannte "Triple Crown“ gesellt: Als Königin dürfen sich nur Frauen fühlen, die alle drei Zacken an der Krone haben: Kinder, Karriere und gutes Aussehen. Fehlt ein Zacken, genügen wir wieder nicht: "Sie ist toll im Job – aber sie hat auch keine Kinder."
Unsere Aggressivität wendet sich gegen andere Frauen
Ich kann nicht glauben, dass wir 2018 immer noch vor allem sanftmütig, makellos und pastellfarben sein sollen. Doch seit ich mir die Frage stelle, fallen mir viele kleine Situationen auf, in denen wir selbst unser unerfüllbares Rollenbild weitertragen: gestern erst, als eine Freundin ihre Tochter als "kleine Besserwisserin" abqualifizierte, als die mir die Dinosaurier erklärte. Ich frage mich: Warum wir das nicht lassen, dieses Bewerten, Beurteilen? "Weil Frauen genau wie Männer diese sexistischen Überzeugungen verinnerlicht haben", sagt Phyllis Chesler. "Gender Bias" nennt sich das. Obwohl beide Geschlechter grundsätzlich das Gleiche in sich tragen, von Grausamkeit bis Großzügigkeit, ist die Spanne an Verhalten, das für Frauen gesellschaftlich akzeptabel ist, miniklein. "Oft wendet sich die Aggressivität, die wir nicht ausleben dürfen, gegen andere Frauen", sagt Chesler.
Das kommt mir absurd vor. "Andersartigkeit macht Frauen Angst, weil sie immer Ausschluss bedeuten kann", so Chesler. Aus Unsicherheit übernehmen Frauen den Sexismus, den sie erleben? Ja. Wie andere diskriminierte Gruppen geben sie Diskriminierung weiter. "Deshalb muss man sagen, dass Slut Shaming ein echtes Problem ist", erklärt Dr. Laura Wendt. Aus Studien weiß sie, dass Frauen sehr wohl über attraktive und lässige gekleidete Frauen lästern, sie sogar mobben.
"Auch in Führungspositionen sabotieren Frauen sich gegenseitig", sagt Phyllis Chesler. Das liege vor allem an der Konkurrenzsituation: Die wenigen Plätze an der Spitze für Frauen sind hart umkämpft. In Wahrheit liegt da der Kern des Problems, das System ist falsch, nicht wir. Trotzdem haben wir uns angepasst. Wie sehr, zeigen sogar Erfolgsfrauen wie Marissa Mayer und Sheryl Sandberg. Als Mayer bei Google anfing, sagte sie: "Ich bin keine Frau bei Google, sondern ein Geek bei Google." Offensichtlich war sie der Ansicht, dass es besser ist, sich von seinem Geschlecht zu distanzieren. Sandberg rät Frauen viel zu lächeln, sich also zu verhalten, wie es das System verlangt. Beides klingt nicht nach Optionen, die uns auf Dauer weiterbringen.
Sisterhood heißt, Frauen in ihrer Vielfalt stärken
Andrea Nahles tut all diese Dinge nicht. Sie spricht über ihre Schwierigkeiten als alleinerziehende Mutter, zeigt Gefühle, auch die "unweiblichen", und Ellenbogen, lächelt nur, wenn ihr danach ist, und haut auch mal drauf, wenn es darum geht, ihre Ziele durchzusetzen. Sie verhält sich nicht nach den Regeln fürs Gemochtwerden. Ist sie nicht damit etwas sehr Gutes: authentisch?
Und verdient sie dafür nicht statt Antipathie ganz im Gegenteil: Solidarität, Respekt, Anerkennung für ein anderes Frauenbild? Wohlgemerkt: Solidarität verbietet keine sachliche Kritik. "Sonst zwingt sie uns ja erneut zur Unterwerfung unter bestimmte Regeln", sagt Kommunikationsexpertin McRobbie.
Der Sisterhood-Gedanke bedeutet am Ende, Frauen in ihrer Vielfältigkeit zu unterstützen. Phyllis Chesler empfiehlt: "Frauen sollten sich ihrer Vielfältigkeit bewusst werden und die auch bei anderen Frauen schätzen." Angela McRobbie findet, dass dafür auch die Quote ein gutes Tool ist: "Wenn wir mehr wären, wären wir automatisch unterschiedlicher." Dr. Laura Wendt hat folgenden Tipp: "Ich spreche ganz bewusst nicht mehr über das Aussehen von Frauen, sondern über ihre Kompetenzen." Und ich nehme mir vor, mir bewusst zu machen, wo ich Stereotype unhinterfragt übernehme. Denn wenn wir verstehen, warum wir Dinge tun, können wir sie auch ändern."
Mehr Solidarität unter Frauen und weniger Stereotype - das sind auch Punkte, die bei der EMOTION-Aktion #WasFrauenfordern zur Sprache kamen. Lest dazu auch einen Text von EMOTION-Cheredakteurin Katarzyna Mol-Wolf über Stereotype und Rollenklischees, die immer noch in von Männern geprägten Arbeitsumfeldern vorherrschen.