Die Journalistin Nathalie Stüben scheint so gar nicht dem Bild einer Frau mit Sucht-Vergangenheit zu entsprechen. Ihre Geschichte zeigt, dass wir unsere Vorstellungen von Alkoholkranken überdenken müssen.
Der Abend war einer von jenen, bei denen am nächsten Morgen nur Erinnerungsfetzen bleiben, hämmernde Kopfschmerzen und ein unstillbarer Durst. Verachtung für das, was sie sich selbst immer wieder antat. Nathalie Stüben, heute 36, gab sich in einem Münchner Club die Kante. Eine ihrer Feier-Freundinnen brüllte ihr nach zahllosen Gin Tonics diesen Satz ins Ohr, der hängen blieb: „Ich bewundere dich, du bist so frei!“ Damals hatte das Trinken längst aufgehört, irgendwie lustig zu sein, endete selten vor der Besinnungslosigkeit. „Ich weiß noch, wie ich mit meinem zugedröhnten Schädel dachte: Wenn die wüsste! Ich bin doch eigentlich so unfrei.“ Der Alkohol gab längst den Takt an, ihre Gedanken drehten sich dauernd um die nächste Möglichkeit zu trinken.
Nach außen machte ihr Leben etwas her: Sie war als Reporterin erfolgreich, viel auf Reisen. „Die lässt es krachen und kriegt trotzdem alles geregelt – das war mein Image.“ Doch der Alkohol hatte sie über die Jahre brüchig gemacht, unsicher, einsam und traurig. Im Inneren war da nichts als eine große Leere, die irgendwann nicht mal mehr wehtat.
Ab wann ist der Konsum nicht mehr normal?
Als Jugendliche kam sie sich tiefgründig vor, wenn sie mit Zigarette und Wein über das Leben philosophierte. Die Teenager-Selbstzweifel waren dann weit weg, ihr gefiel der Exzess. Über die Black-outs lachte sie am nächsten Tag mit ihren Freund:innen. Alles ganz normal? Sie vertrug viel, trank Chardonnay und Grauburgunder flaschenweise. Den Tiefpunkt erreichte sie mit Ende zwanzig, hatte damals manchmal mehrere Abstürze in der Woche. „Es war, als würde der Kater, mit dem ich oft aufwachte, sich über mein komplettes Leben spannen, wie ein dunkles Grundrauschen.“ Der Alkohol entstellte ihr Wesen. Wo vorher Lebensfreude, Güte und Witz waren, zogen Zynismus, Neid und Unzufriedenheit ein.
Einmal schlug sie sich beim Feiern einen Zahn aus, ständig hatte sie Hämatome, weil sie irgendwo gestürzt war. Am Ende war sie wie abgeschnitten von ihren Emotionen, ohnmächtig, hart zu sich selbst und zu anderen. „Ich war innerlich so abgefuckt, das kann man sich gar nicht vorstellen.“
Mehr von Nathalie Stüben:
Stübens Buch "Ohne Alkohol" ist im Kailash Verlag erschienen (16 €). Darin erzählt sie offen und schonungslos von ihrer Alkoholabhängigkeit und räumt mit Irrtümern auf.
Auch in ihrem Podcast "Ohne Alkohol mit Nathalie" erzählt sie von ihren Erfahrungen und enttabuisiert das Thema.
Unsere Vorurteile über Alkoholkranke
Beschäftigt man sich mit der Geschichte von Nathalie Stüben, stößt man unweigerlich auf seine eigenen Vorurteile: Wer säuft, läuft verwahrlost durch die Gegend, kriegt nichts auf die Reihe, hatte eine kaputte Kindheit und lebt deshalb auch ein kaputtes Leben. Nathalie war auch in den Hochphasen ihrer Sucht nicht körperlich abhängig, jedoch psychisch. Sie war stets pünktlich, gut angezogen, hatte scheinbar alles im Griff. Und damit entspricht sie vielleicht viel mehr der Realität dieser Sucht als die Bilder, die wir im Kopf haben. Denn Alkohol ist so normal, dass wir meist erst dann erkennen, dass ein Mensch süchtig trinkt, wenn er aufhört. „Die Verleugnung, die sich im Inneren der Betroffenen abspielt, findet sich auch in der Gesellschaft wieder“, sagt Nathalie: „Unser Selbstbetrug fällt uns so leicht, weil unser Umfeld gelernt hat, wegzuschauen.“ Die deutlichsten Anzeichen, wie das zwanghafte Verlangen, Alkohol zu konsumieren, sowie der Kontrollverlust über die Menge, lassen sich gut verstecken – auch vor sich selbst.
Nathalie versuchte immer wieder, mal eine Woche ohne Wein klarzukommen, mal nur zwei Gläser statt zwei Flaschen zu trinken. Doch nicht sie hatte den Alkohol unter Kontrolle, sondern er sie. Der Moment, in dem ihr klar wurde, dass sie aufhören musste, war der 18. Juli 2016. „Ich erwachte in dem vertrauten Horror: krasses Katergefühl, neben mir irgendein nackter Typ, mein Lieblingskleid zerfetzt auf dem Boden.“ All die Jahre hatte sie diesen Schmerz in der Magengegend, so ein Ziehen, das fast immer da war. An diesem Morgen fühlte es sich an, als würde ihr jemand ein Messer in den Bauch rammen. Die Scham, die Leere waren überwältigend. Sie hatte an diesem Tag Spätschicht beim Bayerischen Rundfunk: „Ich erinnere mich, wie ich auf meinem Rad saß und panische Angst vor dem hatte, was von meinem Leben ohne den Alkohol noch übrig sein würde. Gleichzeitig war es, als würde ich einen tonnenschweren Rucksack abwerfen.“
Wo liegt die Ursache für die Krankheit?
Die Sucht ist ein Symptom für ein tieferliegendes Problem oder ein frühkindliches Trauma: Diese Einordnung begegnete Nathalie ständig, als sie anfing, über ihr Alkoholproblem zu reden. Etwas anfangen konnte sie damit nicht. „Was haben wir bloß falsch gemacht?“, war auch die Reaktion ihrer Eltern, als sie von der Abhängigkeit ihrer Tochter erfuhren. Sie hatten geahnt, dass etwas nicht stimmte, weil Nathalie oft dünnhäutig war. Dass der Alkohol das Problem sein könnte, daran dachten sie nie. In der Familie war der mit schönen Feiern verbunden, er wurde genossen, zelebriert wie ein kulturelles Accessoire.
Sie war verunsichert, begann, in ihrer Vergangenheit zu forschen, doch sie stieß nur auf Fotos eines selbstbewussten, neugierigen Kindes, auf Erinnerungen an ein intaktes Zuhause voller Wärme und Geborgenheit. Und trotzdem: „All diese Empfindungen, die landläufig mit Trauma assoziiert werden, kannte ich: diese Hilflosigkeit, diese Wut, diese Ohnmacht.“ Wieso empfindet jemand so, der alles im Leben hat? Warum greift er zur Flasche? Sie tat das, was Journalist:innen eben tun, wenn sie einer Sache auf den Grund gehen wollen: Sie las Studien, sprach mit Expert:innen, verglich Erklärungsansätze.
Der Alkohol selbst schafft die Probleme
Eine Antwort fand sie in der Arbeit des Psychiaters und Harvard-Professors George E. Vaillant, dessen Buch „The Natural History of Alcoholism“ auf dem Gebiet der Alkoholismusforschung als bahnbrechend gilt. Seine Kernaussage: Es sind meist nicht die Probleme, die zur Sucht führen. Es ist der Alkohol, der die Probleme schafft, die wir wiederum mit Alkohol betäuben. Laut Vaillant spielen Faktoren wie Genetik, Verfügbarkeit oder der Stellenwert, den Alkohol im Umfeld eines Kindes hat, eine Rolle, wenn es darum geht, ob es später abhängig wird. Ob eine Kindheit glücklich war, aber nicht. Auch Angststörungen und Depressionen seien oft eine Folge des Konsums, nicht unbedingt die Ursache. Ein völlig neuer Blickwinkel. „Dass auch andere Perspektiven zulässig sind und dass ich meinem Gefühl trauen konnte, war für mich befreiend.“
Natürlich gibt es Menschen, die aufgrund von traumatischen Erlebnissen anfangen zu trinken. Doch Nathalie hat für sich eine andere Wahrheit gefunden: „Ich habe mir angewöhnt, eine Droge zu konsumieren. Und blöderweise haben Drogen die Eigenschaft, abhängig zu machen, wenn man sie regelmäßig konsumiert.“ Dann fallen schnell die Schlagworte „Suchtpersönlichkeit“ oder „Alkohol-Gen“. Aber gibt es so etwas wirklich? Die aktuelle Forschung sagt: Zwar beeinflussen Gene zu rund 50 Prozent, ob wir alkoholabhängig werden oder nicht. Aber vor allem insofern, als dass sie bestimmen, wie gut wir Alkohol vertragen. Je höher die Toleranz, desto höher auch das Risiko.
"Mein Name ist Nathalie und ich bin Alkoholikerin"
Der erste Anlaufpunkt auf dem Weg zur Nüchternheit war für Nathalie ein Meeting bei den Anonymen Alkoholikern. Als sie den Satz "Mein Name ist Nathalie und ich bin Alkoholikerin", aussprach, war das ein einschneidender Moment. Minutenlang konnte sie nicht mehr aufhören zu weinen. Gesagt hat sie ihn trotzdem nur ein einziges Mal. "Ich wollte mir nicht vom Alkohol meine Zukunft definieren lassen." Es habe sie erschreckt, dass da Leute saßen, die seit 20 Jahren nüchtern sind und sich immer noch als Alkoholiker:innen bezeichnen. Sie sagt sich lieber: "Ich bin nüchtern, ich bin gesund, ich trage Verantwortung für meine Entscheidungen."
Damals stand sie vor einem emotionalen Schlachtfeld. „Ich war vollkommen orientierungslos, dachte: Was habe ich bloß all die Jahre gemacht? Mit meinem Körper, meiner Seele, meinen Freunden?“ In der ersten Phase der Abstinenz schlief und weinte sie viel. Aber die heftigen Emotionen waren erträglicher als die vorherige Taubheit. Sie ging wieder ins Museum, zum Yoga, fing an, ihren Körper wahrzunehmen. Doch sie fühlte sich auch getrieben, entwurzelt.
Was empfindet sie heute für ihr früheres Ich? "Mitgefühl"
Wenn die Leere zu groß wurde, stopfte sie sich mit Süßigkeiten voll. Die Wahrheit verschwieg sie lange. Sie brauchte Zeit, zu regenerieren, aufzuarbeiten. Sie ist diesen Weg allein gegangen, ohne Therapie, ohne Selbsthilfegruppe. Die Beschäftigung mit Positiver Psychologie und Achtsamkeit schufen wieder Boden unter den Füßen, vor allem aber die wissenschaftliche Recherche. Dadurch konnte sie ihrem Leid auf den Grund gehen, sich selbst verstehen lernen.
Fünf Jahre ist der letzte Kater nun her. Nathalie, die ihre Zukunft immer in New York oder Rom gesehen hatte, lebt mit Mann und Kindern nun in Rosenheim, erfüllt vom Kleinstadtleben. Auch das gehört für sie zum Heilungsprozess: zu erkennen, wie man eigentlich ist – und sich auch so sein zu lassen. Was empfindet sie, wenn sie an den Menschen denkt, der sie früher war? „Mitgefühl“, sagt sie. Sonst nichts.
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