Düzen Tekkal (42) ist Fernsehjournalistin, Filmemacherin, Kriegsberichterstatterin und Menschenrechtsaktivistin. Sie steht derzeit im Austausch mit Frauen aus Afghanistan, die unter der Taliban-Herrschaft die größten Leidtragenden sind. Mit uns spricht sie über die bedrückende Lage, in der sich Mädchen und Frauen vor Ort gerade befinden.
EMOTION: Frau Tekkal, die Bildern von flüchtenden Menschen in Afghanistan sind verstörend und dramatisch. Vor sieben Jahren waren Sie im Irak und haben hautnah miterlebt, wie Jesid:innen vor dem IS flohen. Lassen sich die Situationen irgendwie vergleichen? Erinnern Sie die aktuellen Bilder an die Erlebnisse von 2014, auch in Hinblick auf die Lage der Frauen?
Düzen Tekkal: Absolut. Ich bin ja auch im regen Austausch mit den Frauen aus Afghanistan. Wir versuchen sie zu retten, sie da raus zu holen. Es waren ähnliche Hilferufe, die ich damals auch von anderen Frauen und Familienangehörigen bekommen habe. Was die Frauen in Afghanistan gerade extrem umtreibt, ist die Angst, ihre Freiheiten zu verlieren. Einige haben Angst vor Vergeltungsaktionen der Taliban – gerade die Journalistinnen und Frauenrechtlerinnen oder ehemalige Regierungsmitarbeiterinnen. Natürlich haben auch die Männer, die Väter, die Brüder Angst, die ihre Töchter und Schwestern beschützen wollen. Sie haben Angst, dass die Taliban an der Tür klopft und die Frauen und die Mädchen wegnimmt.
Und deswegen habe ich in den letzten Tagen sehr schlecht geschlafen. Ich weiß, was diesen Frauen blüht. Die Taliban sind ja keine Unbekannten, die sind geistig mit dem IS verbunden, auch wenn es viele Unterschiede gibt. Es geht um die Scharia, es geht um einen Gottesstaat, das ist die Ideologie der Taliban. Für mich ist das ein besonders bedrückendes Gefühl, weil automatisch die Bilder aus den Frauen der IS-Gefangenschaft hochkommen.
Sie sind im Austausch mit Frauen vor Ort: Wie kann man sich ihre Situation dort gerade konkret vorstellen, welche Berichte erreichen Sie?
Man muss sich das so vorstellen, dass jede Frau, die draußen herumläuft, jetzt erst einmal suspekt erscheint. Die Checkpoints sind alle in den Händen der Taliban und die Frauen sitzen wie in einer Falle, weil sie gar nicht aus ihren Wohnungen rauskommen. Sie müssen aber irgendwie zu den Flughäfen. Und genau da müssen wir eingreifen
Wie zum Beispiel?
Wir haben eine Initiative gegründet und hoffen dabei auf Unterstützung. Wir brauchen die Unterstützung der Bundeswehr, der KSK-Einheit, Listen, eine engere Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt, mit den Verteidigungsministerien. Wir sind sehr besorgt um die afghanischen Frauen.
Düzen Tekkal ist Gründerin der Frauen- und Menschenrechtsorganisation HÁWAR.help. Gemeinsam mit der Aktivistin Kristina Lunz hat sie in Reaktion auf die Lage in Afghanistan die Sonderinitiative "Defend Afghan Woman's Rights" ins Leben gerufen, mit der sie Spenden für afghanische Frauenrechtsorganisationen und hilfsbedürftige Menschen vor Ort sammeln. Sie stellen außerdem mit einem Zehn-Punkte-Plan konkrete Forderungen an die Außenpolitik auf, wie etwa: sichere Wege für die Frauen zum Flughafen oder unbürokratische Aufnahmen der bedrohten Frauenrechtsverteidigerinnen.
Bei den EMOTION Women's Days am 13. September wird Düzen Tekkal gemeinsam mit Maja Göpel Kristina Lunz zum Thema THE GERMAN DREAM – WAS WIR UNS ZUR BUNDESTAGSWAHL WÜNSCHEN austauschen – seid dabei!
50 Prozent der Studierenden in Afghanistan sind Frauen, die den Duft der Freiheit eingeatmet haben. Diese Freiheit wollen sie behalten.
Düzen TekkalTweet
Wie würde sich das Leben afghanischer Frauen und Mädchen unter der Taliban-Herrschaft verändern, wovor fürchten sie sich?
Sie wollen frei sein. Und die meisten waren es auch gewohnt, frei zu sein. 63 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 24 Jahre. Sie haben in den letzten Jahren gewisse Freiheiten genossen: Sie haben studiert, sind zur Schule gegangen. Da sind Journalist:innen, Ärzt:innen, Rechtsanwält:innen. 50 Prozent der Studierenden in Afghanistan sind Frauen, die den Duft der Freiheit eingeatmet haben. Diese Freiheit wollen sie behalten. Aber das wird mit der Taliban nicht zu machen sein. Jetzt geht’s ja tausend Jahre zurück. Das heißt im Prinzip, dass sie nur noch mit männlicher Begleitung rausgehen werden dürfen, ganzkörperverhüllt. Väter und Brüder wollen ihre Frauen, Schwestern und Töchter gerade nicht mehr vor die Tür gehen lassen, weil sie Angst haben, dass sie an Taliban-Kämpfer verheiratet werden. Das ist natürlich ein großes Problem. Es ist wichtig zu erkennen, dass wir da Druck ausüben müssen.
Druck ausüben – was bedeutet das konkret?
Wenn wir es mit unserer westlichen Wertegemeinschaft noch ernst meinen, müssen wir die Menschenrechte und Frauenrechte auch weltweit verteidigen. Also immer wieder auf die Menschenrechtsverletzungen der Taliban hinweisen. Die zeigen sich jetzt übrigens natürlich von ihrer besten Seite, sie werden ja jetzt auch beobachtet. Darauf dürfen wir nicht reinfallen. Es geht auch darum, dass wir westliche Politik künftig so gestalten müssen, dass sie menschenrechtsgeleiteter wird. Dass wir die Einflussmöglichkeiten, die wir als Geberland haben, konditionieren müssen. Und dass wir Zivilgesellschaften und jene, die unsere Werte teilen,
unterstützen müssen. Es ist wichtig, dass die Frauenrechtlerinnen unsere Bündnispartner werden und dass wir ihre Ängste ernst nehmen.
Auch alle Menschen, die einer Minderheit angehören, haben jetzt Angst.
Düzen TekkalTweet
Ich glaube, wir haben mehr Möglichkeiten, als wir uns zugestehen. Heute gibt es einen riesigen Unterschied zu früher, weil die Frauen im Zeitalter der Digitalisierung natürlich auch ganz andere Möglichkeiten und Wünsche entwickelt haben. Wir dürfen die Menschen, Familien, Väter, Brüder, die auch auf die Bildung ihrer Töchter gesetzt haben, jetzt nicht im Stich lassen. Auch alle Menschen, die einer Minderheit angehören, zum Beispiel die Hazaris, Homosexuelle oder künstlerisch Aktive, haben jetzt Angst.
Hilfe für Afghanistan – Adressen und Aktionen, die du unterstützen kannst:
- Defend Afghan Woman's Rights: Sammelt Spenden für afghanische Frauenrechtsorganisationen und Menschen, die vor Ort Unterstützung brauchen
- Afghanischer Frauenverein: Fördert vor allem Kinder und Frauen in Afghanistan
- Seebrücke: Ruft zu öffentlichen Aktionen in ganz Deutschland auf
- Luftbrücke Kabul: Ruft dazu auf, Briefe an die Abgeordneten zu schreiben
- Ärzte ohne Grenzen: Versorgt Schwangere und Neugeborene, Verletzte und Verwundete
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