In ihrem Buch "Irgendwas muss anders werden" zeigt Burnout-Präventionsexpertin Helen Heinemann Wege aus der Erschöpfung auf.
Kraftlos, müde, gestresst – was hilft? Helen Heinemann im Interview
Frau Heinemann, Sie haben sich der Burnout-Prävention gewidmet, mit Ihrem Buch "Irgendwas muss anders werden" geben Sie Ihren Leserinnen die Chance, ein Fünf-Tage-Intensivprogramm zu begleiten, wie Sie es typischerweise in Ihrer eigenen Akademie für Stressmanagement geben. Wieso fühlen wir uns heute alle so erschöpft?
Bei meiner langjährigen Arbeit habe ich festgestellt: Es gibt unterschiedliche Stressfaktoren für Frauen und Männer. Vor 15 Jahren habe ich zunächst ein Programm für erschöpfte berufstätige Mütter entwickelt, dann die Seminare auf Frauen ohne Kinder erweitert, später auch Männergruppen zur Burnout-Prävention geleitet. Alle fühlen denselben Stress, es gibt nur individuell andere Ursachen von Stress. Bei Frauen ist es häufig die Mehrfachbelastung (Job, Kinder, pflegebedürftige Eltern) und der Drang zum Perfektionismus. Frauen machen immer noch mehr im Haushalt und werden davon überlastet. Frauen kommen oft zu kurz, sie spüren nicht mehr, was mit ihnen los ist. Männer fühlen sich von ihrem Job belastet, und die Unsicherheit in ihrer männlichen Rolle. "Alles was ich kann, kann meine Frau auch – manchmal sogar noch besser." Das stresst Männer.
Sie beschreiben in Ihrem Buch die Situation von Müttern, die in der Doppelt- und oft Dreifachbelastung Kinder, Job und pflegebedürftige Eltern, unter hohem Druck stehen. Was können diese Frauen, die scheinbar in der Situation gefangen sind, verändern?
Ich bin selbst ein gutes Beispiel. Ich habe vier Kinder und wollte das immer richtig gut machen. Vollwertkost, der perfekte Tagesrhythmus, alle Aufmerksamkeit auf der Entwicklung der Kinder. Abends war ich total erschöpft. Ich habe mit mir selbst geschimpft, dass ich mich nur besser organisieren müsste. Dann habe ich angefangen, mich darauf zu konzentrieren, wie es mir selbst geht. Denn wir sehen immer nur unsere Aufgaben und die anderen. Nur das Außen. Mein Trick war damals – und er ist es bis heute: Zwischen all den Aufgaben steht die kleine Helen. Die kleine Helen ist in meiner Vorstellung ungefähr fünf. Und die frage ich: "Was brauchst du jetzt, wie geht's dir?". Alle Antworten sind erlaubt. Das heißt nicht, dass ich alles davon sofort umsetze, sondern es geht vorrangig darum, sich selbst wieder zu spüren. Und einen Kompromiss zu finden. Meine Lösung: Ansprüche runterschrauben. Es muss nicht jeden Abend das perfekte Abendessen für die Kinder sein. Es ist auch mal eine Pizza erlaubt, die in der Badewanne serviert wird.
Sich Hilfe holen ist ebenfalls erlaubt. Ich könnte es allein machen, muss ich ja aber gar nicht. Der Mann darf eingespannt werden, auch wenn er es anders macht. In der Zeit konnte ich mich zurückziehen und dann doch mal etwas lesen.
Corona, Homeoffice und Homeschooling – die Nerven liegen blank. Haben Sie Tipps, was Frauen jetzt tun können, um nicht durchzudrehen?
Runterfahren, vielleicht auf das charmante Niveau eines Campingurlaubs. Alles, was nicht unbedingt nötig ist, lassen. Jetzt ist Ausnahmezustand, fünf Tage Pasta hintereinander richten keinen Riesenschaden an. Es ist eine besondere Zeit. Was hilft, ist die Vorstellung: Wie sollen meine Kinder später über diese Zeit sagen? Woran sollen sie sich erinnern?
Wie können wir in 20 Minuten unsere Ressourcen wieder aufladen?
Man kann nicht alles auf einmal schaffen, aber man kann alles auf einmal liegen lassen. Und das sofortige Stoppen kann uns auch retten. Dann können wir uns in einer Krisensituation an einen Ort zurückziehen, an dem wir allein sind. Dazu darf man jetzt auch ruhig die Wohnung umräumen und eine Mini-Erholinsel schaffen. Die darf dann auch kommuniziert werden und daran müssen sich alle halten. Da können wir dann das machen, was uns gefällt. Das muss kein Meditieren sein, jede:r darf selbst entscheiden, was guttut – lesen, laufen, schminken. Meine heilige Zeit: Ich schnappe mir ein Buch oder mache ein Powernapchen. Jede:r hat seins.
Achtsamkeitstraining, Waldbaden, Meditations-Apps – wir beschäftigen uns intensiv mit dem Entstressen. Sollten wir nicht an anderer Stelle ansetzen, um all das gar nicht unbedingt zu benötigen?
Rechtzeitig zu spüren "Jetzt bin ich an der Grenze" ist das Wichtigste. Pausen sind so elementar wichtig. Sich mal kurz mit einem Tee ans Fenster stellen. Das Stressniveau insgesamt muss sich senken. Grundsätzlich ist bei allgemeinen Tipps schwierig, dass mir jemand anders sagt, was ich tun soll. Dann bin ich nämlich reaktiv, ich reagiere auf andere. Aber vielleicht ist es für mich viel schöner, Sudoku zu machen oder in den Garten zu gehen.
Pausen sollte man immer dann machen, wenn man keine Zeit dafür hat.
Helen Heinemann in "Irgendwas muss anders werden!"Tweet
Sie schreiben in Ihrem Buch von Grundannahmen, den sogenannten Glaubenssätzen, die uns schon immer begleiten und uns ausbremsen. Gerade in die verfallen wir aber in Stresssituationen besonders gern zurück. Wie werden wir sie los?
Ich muss erst merken, was meine Glaubenssätze sind. Das geht alleine recht schwer, am besten man spricht mal mit Freundinnen darüber. Was für Grundannahmen habe ich? Sätze wie "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen", "Wer A sagt, muss auch B sagen" sind typisch. Diese Sätze sind Treiber. Es hilft, sie auf einer Liste zu sammeln, gern im Gespräch mit anderen (zum Beispiel mit dem Partner "Wie war es früher bei euch zuhause?").
Eine Lösung kann sein, die für mich passenden neuen Glaubenssätze zu entwickeln. Die sollen so kraftvoll sein, die alten zu ersetzen. Die neuen Sätze sollen mich selbst in den Fokus rücken, in dem ICH die Bestimmerin bin. Das kann auch lustig sein, darf am Kühlschrank hängen und mich jedes Mal, wenn ich daran vorbeigehe, zum Lachen bringen.
Wir alle haben mehrere Ich-Zustände (Das Erwachsenen-Ich, das Eltern-Ich, das Kind-Ich), die Sie in ihren Seminaren und im Buch aufgreifen. Sie sind wichtig für unser Gleichgewicht. Welches Ich ist uns im Alltag abhanden gekommen?
Wir sind so erwachsen geworden und haben Verantwortung, unsere Werte weiterentwickelt, Ansprüche entwickelt, wie wir die Welt gestalten wollen. Das kindliche Ich ist uns so abhanden gekommen. Wir treiben uns immer weiter voran. Das innere Kind hat vielleicht dazu keine Lust und will das machen, worauf es gerade Lust hat. Den Zugriff auf diese oftmals einfachen inneren Bedürfnisse haben wir häufig verloren. Das führt oft dazu, dass wir weniger Freude empfinden, zu sehr auf Pflichterfüllung setzen.
Sie begleiten in Ihrem Buch verschiedene Frauen, die an Ihrem Intensivseminar von fünf Tagen teilnehmen. Was würden Sie allen als grundsätzlichen und wichtigsten Rat mitgeben, um aus der Erschöpfung wieder herauszukommen?
Wichtig ist, sich zu fragen: Was ist das eigentlich schöne Leben für mich? Die Vorstellung hilft, sich als hundert Jahre alten Menschen zu sehen, der auf sein Leben zurückblickt. Was würde mich erfreuen, wenn ich altersweise zurückblicke? Wenn ich stolz auf mein Leben zurückblicke mit dem Fokus, dass meine Kinder alle Professor:innen sind, oder erkenne, es war wichtiger für mich, dass wir als Familie eine schöne Zeit hatten. Diese Perspektive gibt mir Hinweise darauf, wo ich im Leben Prioritäten setzen muss, damit sich diese Wünsche erfüllen. Ich muss unterschiedliche Schwerpunkte finden. Und darf den Rest auch mal sein lassen. Schöne Momente sammeln ist für alle wichtig. Es kommt auf die vielen kleinen Sonnen im Leben an, die man sich selber schaffen kann.
Über Helen Heinemann:
Helen Heinemann hat Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialpsychiatrie studiert und anschließend eine psychotherapeutische Ausbildung absolviert. Seitdem arbeitet sie im Bereich Krisenintervention und Gesundheitsförderung, u. a. in Kooperation mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und den großen deutschen Krankenkassen. 2005 gründete sie das "Institut für Burnout-Prävention" in Hamburg. 2016 folgte die Gründung der "Heinemann Akademie" zur Qualifizierung von Menschen in Führung, Beratung und Kursleitung für ein multimodales Stressmanagement.