Ronald Zehrfeld spielt im Film "Das schweigende Klassenzimmer" einen Vater. Er selbst wuchs in der DDR auf und war Teil des dort vorherrschenden Systems. Wie er das Ganze heute sieht, erzählt er uns in diesem Interview.
Über den Film "Das schweigende Klassenzimmer":
1956 sind Theo und Kurt Abiturienten im damaligen Stalinstadt. Bei einem Kinobesuch in West-Berlin erfahren sie von der blutigen Niederschlagung der Aufstände in Budapest. Zusammen mit ihren Mitschülern halten sie eine Schweigeminute im Klassenzimmer ab, ohne zu ahnen, was für Wellen diese kleine menschliche Geste schlagen wird. Sogar der Volksbildungsminister schaltet sich ein, um den "Schuldigen" für die Schweigeminute zu finden. Doch die Klasse hält zusammen, koste es, was es wolle…
Lars Kraumes Film, der auf einer wahren Geschichte basiert, läuft seit 1. März im Kino. Wir haben mit Ronald Zehrfeld in Berlin darüber gesprochen.
EMOTION.DE: Was wussten Sie vorher über das schweigende Klassenzimmer?
Ronald Zehrfeld: Zu meinem Erschrecken gar nichts, erst als Lars Kraume mich gefragt hat, ob ich den Vater spielen will. Das Buch hat mich sofort gepackt, und ich war überrascht, dass die Geschichte keine Fiktion war und man sie einfach unter den Teppich gekehrt hat. Meine Eltern hatten von dem Vorfall gehört und als ich sie fragte, warum sie mir davon nichts erzählt haben, meinten sie: Naja, du hast ja nicht gefragt.
Wenn Sie einen der Schüler hätten spielen können, in welcher Rolle hätten Sie, Ronald Zehrfeld, sich da gesehen?
In der Rolle von Theo, dessen Vater ich spiele. Theo ist auf der Suche, er hat zunächst keine Angst und wird dann davon überrascht, welche Wellen die Schweigeminute schlägt. Schließlich entscheidet er sich, für etwas einzustehen und keine Ausreden mehr zu erfinden. Am Schluss steht er zu seinem Wort. Damit kann ich mich gut identifizieren.
Sie waren zwölf, als die Mauer fiel. Welche Erinnerungen haben Sie noch an Ihre DDR-Schulzeit?
Ich erinnere mich an die Jungpionierzeit, die Thälmann-Pionierzeit, die FDJ. Vor allem Auszeichnung und Tadel sind mir sehr geläufig. Beim Samstagsunterricht mussten in der Hofpause alle Klassen antreten zum großen Appell. Da haben wir dann unsere Propaganda-Lektion bekommen, und es wurde öffentlich verkündet, wer was falsch gemacht hat und wer wofür einstehen musste.
Und wie fanden Sie das?
Für mich war das normal, ich kannte ja nichts anderes. Erst als ich älter war, habe ich gemerkt, wie das System funktioniert. Zum Beispiel hatten wir zwei, drei Mitschüler in der Klasse, die in der ganzen Zeit weder Jungpionier noch Thälmann-Pionier noch FDJler waren, weil ihre Eltern das nicht wollten. Die sind sehr wohl angeeckt und mussten Repressalien erleiden, weil sie sich an dem System gestoßen haben. Damals war ich einfach sehr blind. Ich selber war in einem Sportsystem drin. Da hatte ich meine Disziplinierung, wenn man das so eklig sagen will, da war von morgens bis abends Training oder Schule. Da war ich happy und habe nichts vermisst.
Also fühlten Sie sich nie in Ihrer Freiheit beschnitten?
Ich wusste ja nicht, wie es ist zu reisen. Ich habe zwar Westfernsehen geguckt, da hab ich schon gemerkt, dass es eine wirkliche Freiheit geben muss und eine große Welt. Es war schon seltsam zu wissen, dass es noch einen anderen Teil Deutschlands gab, mit allem, was wir toll fanden. Kühlschränke mit dem ganzen Westzeug drin, die Möglichkeit, überall hinzureisen, nicht immer nur an die Ostsee oder in den Harz. Aber ich war ja noch jung, ich dachte, ich könnte dann reisen, wenn ich mal Rentner bin. Für mich war es wichtiger zu sehen, ob ich mal studieren kann oder gut genug bin, eine Sportlaufbahn einschlagen zu können. Das habe ich als Chance für die Zukunft gesehen, mal eine Ecke von der Welt zu sehen.
Ihre Eltern waren bei der Fluggesellschaft Interflug und konnten was sehen von der Welt.
Ja, allerdings nur im sozialistischen Ausland, da unterschied man ja sehr genau. Aber sie haben über die Interflug einen Freiflug bekommen nach Budapest, morgens hin, abends zurück. Das hatte für mich was von einem Ausflug in den Westen. Mein Vater hat versucht, eine kurze Jeans zu bekommen und irgendwelche Bob-Dylan-Platten, meine Mutter hatte im Hochsommer die Weihnachtswunschzettel in der Hand, um westliche Kosmetikprodukte zu kaufen und ich durfte Pepsi trinken. Das hatte was von großer weiter Welt.
Für Ihre Eltern war Flucht nie ein Thema?
Nein, da sind wir wieder bei der Frage von Courage und Angst: Wann trifft man eine Entscheidung, wann nicht? Ich glaube, ich hätte da auch sehr viel Angst gehabt. Im Film geht es ja auch darum, wie wichtig es ist, schon als junger Mensch eine politische Meinung zu haben.
Wie politisch waren Sie als Jugendlicher?
Schon sehr. Heute könnte man bösartig sagen, dass das noch Teil der Propaganda war. Aber im Film wird genau damit gespielt: Schließlich propagierte das System einerseits Solidarität, Freundschaft, Gemeinschaft, gleichzeitig werden die Schüler dafür bestraft, obwohl die Schweigeminute ja genau aus diesem Geist heraus abgehalten wurde. Da wird das alles ad absurdum geführt. Es wurden also die gleichen Instrumente benutzt wie zu den braunsten Zeiten. Ich weiß nicht, ob ich in so einer Zeit wirklich den Mut gehabt hätte, so etwas durchzuziehen. Es gab ja für die Klasse danach keine Perspektive mehr.
Wie politisch interessiert sind Sie heute?
Immer noch sehr. Ich sehe mit Sorge die ganzen tagespolitischen Themen, Flüchtlingskrise, Pegida, AfD. Ich versuche, wach zu bleiben, mir meine Meinung zu bilden und mich auch einzusetzen, zum Beispiel habe ich am Berliner Ensemble eine Lesung mit Flüchtlingen gemacht. Wir sind alle Menschen hier auf dieser blauen Murmel und wir wollen alle, dass unsere Kinder bestmöglich aufwachsen. Mir ist wichtig, nicht jeden Schnulli zu machen. Es ist ein Geschenk, sich in meinem Beruf gesellschaftlich relevanten Themen widmen zu können und ihnen ein Podium zu verschaffen. Dafür ist das Medium Film auch einfach gut, mit all seiner Magie. Für "Zwischenwelten", einen Film über Afghanistan, kriege ich noch heute Briefe oder Facebook-Nachrichten von Bundeswehrsoldaten, die sagen, danke, dass es diesen Film gibt.
Welche Werte sind Ihnen am wichtigsten, Werte, die Sie auch Ihrer Tochter vermitteln?
Dass man Fehler machen kann. Und dass man sich immer gegenseitig zuhören soll. Wir versuchen unserer Tochter nicht irgendeine Meinung überzustülpen, sie soll die Fähigkeit haben, sich ein eigenes Bild zu machen und Dinge auch kritisch hinterfragen zu können, ohne Angst zu haben. Ich finde wichtig, dass sie später nicht einfach nur die Schublade aufmacht und alles einsortiert. Oftmals ist man doch überrascht, wie falsch man mit seinen Vorurteilen liegt.
Ihre Tochter ist jetzt neun, inwiefern spielt da Politik schon eine Rolle?
In der Schule geht es bereits um den Nationalsozialismus und den Mann mit dem Oberlippenbart. Oder auch darum, wie es Kindern woanders ergeht. Wenn meine Tochter einen Haufen Kuscheltiere zusammensucht und sagt: Nimm die mit nach Afghanistan für die Kinder dort, kommen mir innerlich die Tränen.
Genauso gibt es aber auch die Tage, an denen sie sagt: Ich will das und das und das. Wo ich dann frage: Reicht nicht eins? Aber solange die Balance stimmt und es immer wieder Momente gibt, in denen ich merke, wow, sie weiß, dass das nicht alles selbstverständlich ist, macht mich das glücklich. Ich möchte meine Tochter ungern in einer rosa Welt aufwachsen lassen, wo sie später unter Schmerzen feststellen muss, dass die Realität ganz anders aussieht. Für uns als Eltern ist das manchmal nicht einfach. Aber wir müssen die Kinder fit machen – auch für den Umgang mit schlechten Menschen.