Inmitten von sozialen Missständen verlässt Zain der Mut. Bis er wegläuft. Der Film "Capernaum – Stadt der Hoffnung" erzählt von einem Jungen aus dem Armenviertel Beiruts, der trotz widriger Umstände Verantwortung für sein Leben übernimmt.
Zain (Zain Al Rafeea) hat viel erlebt für sein Alter. Vermutlich ist er 12 Jahre alt. Wie alt er genau ist, weiß niemand. Denn laut dem Gesetz existiert er gar nicht. Seine Eltern konnten sich seine Registrierung nicht leisten. Sie selber besitzen auch keine. Das bringt einige Probleme mit sich, die Zain nicht hinnehmen möchte.
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Als illegaler Immigrant auf der Suche nach einer neuen Perspektive
Ein großes Problem ist, dass die Eltern von Zain als illegale Immigranten in Beirut kaum Möglichkeit haben, um einer ordentliche Arbeit nachzugehen. Sie halten sich mit Drogenschmuggel über Wasser. Zain selber arbeitet auch. Er fährt nicht wie andere Kinder des Viertels mit dem Kleinbus zur Schule, sondern führt Lieferungen an den Kleinhändler Assad aus. Doch Zains Vater, Selim (Fadi Kamel Youssef), lässt Zain nicht zur Schule gehen. Mit seinen beiden Geschwistern und seinen Eltern lebt Zain zusammengepfercht in einer kleinen Wohnung unter schlechtesten Bedingungen. Besonders heikel ist, dass Assad es auf Zains kleine Schwester Sahar (Haita Izam) abgesehen hat. Als ihre Eltern sie an Assad verkaufen, läuft Zain vor Wut davon. Während seine Eltern sich als Opfer ihrer misslichen Situation sehen, folgt der Junge seiner Intuition. Die Reise in Zains Unabhängigkeit beginnt.
Im Kampf gegen menschenunwürdige Rechte
Zain hat seine alte Familie aufgegeben – doch das ist für ihn kein Grund zu resignieren. Vor Gericht verlangt Zain, dass seinen Eltern verboten werden soll, weitere Kinder zu kriegen. Seine Mutter Souad (Kawthar Al Haddad) verteidigt sich. Wäre jemand in ihrer Situation, hätte er nicht anders gehandelt. Selim spricht davon, dass er mit der Vorstellung aufgewachsen ist, dass Kinder die Grundsicherung für die Eltern sind. Es wird deutlich, mit welchen Werten die Eltern von Zain aufgewachsen sind – und wie diese Werte dazu führen, dass sie ihre Verantwortung als Eltern an ihre Kinder abgeben.
Nadine Labaki hatte hohe Ansprüche an sich und ihren Film
Der Film "Capernaum – Stadt der Hoffnung" von der libanesischen Regisseurin Nadine Labaki folgt nicht einfach dem Opfer-Schuld-Prinzip und verurteilt die Eltern als schuldig. Zu Anfang wird diese einfache Schuldzuschreibung zwar unkommentiert stehen gelassen, doch im Laufe des Films wird sie subtil infrage gestellt. Besonders weil Nadine Labaki während der Filmproduktionen sich ihrer eigenen Vorurteile bewusst wurde. Je mehr sie sich mit ihren Protagonisten und ihren Biographien beschäftigt, desto verständnisvoller wurde die Regisseurin. Bei den Darstellern handelt es sich nämlich nicht um professionelle Schauspieler, sondern um Laiendarsteller aus den Slums von Beirut. Der Regisseurin war es wichtig, dass der Film so nah wie möglich an der Realität ist. Sie selbst sieht sich in ihrer Rolle als Eigenbesetzung als einzige "falsche Note" in "Capernaum", denn alle außer ihr haben auf der Straße gelebt und spielen im Film geradezu die Rolle ihres tatsächlichen Lebens. Sich dessen bewusst, hielt Nadine Labaki ihre Rolle im Film klein.
Mein Film soll unter die Haut meiner Figuren gehen, anstatt anders herum. Und wie durch ein Wunder – und ich bin überzeugt, dass irgendeine Kraft unseren Film beschützt hat – ergab sich alles. Als ich meine Figuren schrieb, tauchten sie auf der Straße auf, und meine Casting-Direktorin fand sie. Ich war fasziniert, fast verliebt darin, wer sie sind, wie sie sprechen, agieren und sich bewegen.
Nadine LabakiTweet
Der Film sollte ein Ort werden, wo sich die Figuren frei ausdrücken können. Das schulde sie den Darstellern.
Ein Film, in dem Fiktion auf Realität trifft
Den Anspruch so nah wie möglich an der Realität zu sein, erfüllte Nadine Labaki direkt auf mehreren Ebenen. Während der Dreharbeiten traf bei ihr im Studio wie im Film Realität auf Fiktion. So wurde Yordanos Shiferaw, die Zains Mutter spielt, wie im Film auch als illegale Einwanderin während der Dreharbeiten verhaftet. "Wenn sie im Film anfängt zu weinen, als sie ins Gefängnis gesteckt wird, sind ihre Tränen echt, weil sie diese Situation real durchlebt hat. Ebenso Yonas, dessen wirkliche Eltern während des Drehs verhaftet wurden. Das junge Mädchen, das ihn spielt musste drei Wochen lang bei der Casting-Direktorin leben. All diese Momente, in denen Fiktion und Realität aufeinandertreffen, tragen zweifellos zur Echtheit des Films bei", sagt Nadine Labaki. Um so nah wie möglich bei der Realität zu bleiben, drehte man überwiegend im Armenviertel in Beirut. Eingestreute Sequenzen mit Menschen in Alltagssituationen rundeten das Ganze ab. Und auch Zain Al Rafeea ist seiner Filmfigur in einigen Aspekten ähnlich. Er konnte beispielsweise auch nicht zur Schule gehen. Das lag aber weniger an seiner Familie als an den gewaltsamen Auseinandersetzungen in Daara im Jahr 2012. Deshalb floh die Familie nach Libanon. Wie im Film arbeitete er seit er klein ist, genauer seit er zehn Jahre alt ist, als Lieferant von Supermarkt-Einkäufen.
"Capernaum" bedeutet übersetzt Chaos
Passenderweise zu den Umständen der Filmproduktion als auch den Inhalten des Films bedeutet der hebräische Filmtitel "Capernaum" übersetzt Chaos. Wenn man das Ergebnis an der Leinwand betrachtet, muss es wohl ein geordnetes Chaos zu sein. Es ist ein Film der Themen wie Verantwortung, gesellschaftliche Strukturen, Machtausübung auf Kinder sowie geistige und reale Grenzen hinterfragt. Dabei werden diese Welten weder oberflächlich noch weitläufig behandelt.
Zain Al Rafeea – ein Kind als Hauptfigur
Dadurch dass die Hauptfigur ein Kind ist, konnten im Film andere Fragen gestellt und andere Blickwinkel aufgezeigt werden, sozusagen mit einem frischen kindlichen Blick. Zain stellte die Machtausübung auf Kinder in Frage. Obwohl er selber ruppig mit anderen Kindern umging, war für ihn klar, dass Kinder genauso wertvoll wie Erwachsene sind. Er kritisierte, dass seine Eltern ihn und seine Schwester benutzten, um am Leben zu bleiben und in ihnen eine Lebensabsicherung sahen. Zains Eltern lebten von der Abhängigkeit zu ihren Kindern. In ihrer Mutlosigkeit schien es die einzige Lösung zu sein, ihre Verantwortung aufzugeben. Einen anderen Weg ging Zain. Er übernahm im Gegensatz zu seinen Eltern Verantwortung für sein Leben. Während seine Eltern sich als Opfer ihrer misslichen Lage sahen. Zain trifft seine Entscheidungen weniger aus kindlicher, sondern erwachsener Natur heraus. Es scheint als hätten ihn die Umstände gezwungen schneller erwachsen zu werden. Seine nüchterne Art unterstreicht es.
Wie Nadine Labaki die Welt von zwei Haupfiguren veränderte
Nadine Labaki schaffte im Film für Zain Al Rafeea als auch Yordanos Shiferaw einen Raum, in dem sie sich ausdrücken konnten. Und in der Realität? Sie konnte für beide ihr Leben im Libanon legalisieren. Durch den UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, konnte Zain mit seiner Familie nach Norwegen auswandern. Dort kann Zain endlich eine Schule besuchen.
Das Video von UNHCR zeigt Zains Weg von den Straßen Beiruts über Cannes nach Norwegen.
Ausgezeichnet beim Filmfestival in Cannes
Dass der Film von Nadine Labaki beim Filmfestival in Cannes den Preis der Jury als auch der Ökumenischen Jury gewann, scheint bei dem Aufwand den die Filmproduktion mit sich brachte, nur gerecht zu sein. Ein Film von großer Empathie und Menschlichkeit – sowohl vor als auch hinter der Kamera. Hoffnungsvoll wählt der Libanon für die Oscar-Verleihung "CAPERNAUM – STADT DER HOFFNUNG" als Bester nicht-englischsprachiger Film aus.
Fazit zu "Capernaum – Stadt der Hoffnung"
Ein Film, der im Armenviertel von Beirut spielt und dabei ein Thema unserer Zeit anspricht: Verantwortung. Er stellt die Frage in den Raum, wie ein Mensch wertvoller sein kann als ein anderer. Dabei bezieht sich die Frage nicht nur auf Menschen ohne Papiere, sondern auch auf Kinder, denen ihre Rechte nicht zugestanden werden. Für mich ein Film, der ohne Mühe nachdenklich als auch hoffnungsvoll stimmt – lohnenswert für alle, die nach Stoff für Diskussionen suchen. Filmstart ist am 17.01.2019.