Frauen tun sich immer noch schwer, in der Ingenieursbranche Fuß zu fassen. Warum das so ist, was geändert werden müsste und wieso Frauen keine Angst vor MINT haben sollten – Darüber haben wir mit Frau Prof. Dr. Kastell vom Verband Deutscher Ingenieure (VDI) gesprochen.
EMOTION.DE: Laut aktueller Zahlen gibt es mehr Studienanfängerinnen und -absolventinnen im Vergleich zu den Vorjahren. In der Relation bleiben Frauen aber immer noch weit hinter den Männern zurück. Was ist da los?
Prof. Dr. Kastell: Das ist schwer von außen zu beurteilen, weil es ja immer um individuelle Entscheidungen geht. Aber es ist schon so, dass in unserer Gesellschaft gewisse Berufsbilder männlich oder weiblich konnotiert sind. Der Ingenieur ist per se ein eher männliches Berufsbild. Zudem handelt es sich um eine Tätigkeit, die für Schülerinnen und Schüler nicht klar erkennbar ist, weil die Vielfältigkeit des Berufs schwer darstellbar ist.
Also würden Sie sagen, dass der bisher geringe Anteil an Frauen in der MINT-Branche auch ein gesellschaftliches Problem ist, zum Beispiel auf Grund fehlender, positiver Rollenbeispiele?
Ja, die Rollenbeispiele fehlen auf alle Fälle. Das heißt, dass Frauen eher seltener auf die Idee kommen, einen Beruf im MINT-Bereich zu wählen. Dennoch gibt es schon viele, auch erfolgreiche, Frauen in diesem Berufszweig. Und es ist auch immer noch so, dass eine Frau, wenn sie sich für dieses Studium beziehungsweise diesen Job entscheidet, einen gewissen Rechtfertigungsdruck hat. Es gilt als außergewöhnlich, sollte sich ein Mädchen oder eine junge Frau zum Beispiel für Elektrotechnik interessieren.
Es müsste also weiterhin ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinden. Wo muss das beginnen? Sie haben eben die Schulen angesprochen. Was muss sich hier verändern?
Generell ist es natürlich bei vielen Berufsfeldern so, dass deren Inhalte schwierig in der Schule zu vermitteln sind. Doch gerade bei den Ingenieurswissenschaften könnte man noch stärker hervorheben, welche Schulfächer damit in Verbindung stehen und wie oft man im Alltag damit in Kontakt kommt. Ich selbst bin Elektroingenieurin – alles was einen Stecker oder eine Batterie hat, ist irgendwann mal mit einem/-r Berufskollegen/-kollegin in Kontakt gekommen. Das reicht von Unterhaltungselektronik bis zur Sicherheitstechnologie. Doch diese plastischen Vermittlungen können die Lehrkräfte nicht leisten. Hier sind wir ganz stark auf die Hochschulen, Industrie- und Handelskammern sowie die Unternehmen angewiesen.
Dementsprechend plädieren Sie dafür, dass Schulen enger mit den eben genannten Institutionen zusammenarbeiten?
Hier gibt es vielerorts schon sehr gute und erfolgreiche Projekte. Das müsste jedoch flächendeckend und strukturiert stattfinden, damit es nicht von den örtlichen Institutionen oder Privatpersonen abhängt, wie gut die Jugendlichen informiert sind.
Sie sagen also, dass nicht nur flächendeckend sondern auch frühzeitig informiert werden muss?
Ich denke, man muss sehr, sehr früh ansetzen. Wenn wir bei Studentinnen ansetzen, dann haben die sich ja schon für den Weg in MINT entschieden. Die kann man natürlich unterstützen und fördern. Aber wenn wir tatsächlich mehr Frauen im MINT-Bereich haben wollen, müssen wir in dem Moment ansetzen, an dem Mädchen anfangen, zu entscheiden, wie ihr Berufsleben und damit ihr Studium respektive ihre Ausbildung aussehen sollen.
Stimmt es, dass Frauen sich bei den Fachrichtungen innerhalb der MINT-Branche vor allem für die weniger Technik lastigen entscheiden?
Technik ist bei MINT natürlich immer dabei. Deswegen würde ich nicht unbedingt von weniger Technik lastigen Berufen sprechen. Allerdings ist es so, dass Frauen oft einen lebensnäheren und anwendungsorientierten Bereich für ihre Wahl favorisieren – zum Beispiel Medizin- oder Umwelttechnik.
Worauf würden Sie diese bestehenden Präferenzen zurückführen?
Das hat sicher mit der Sozialisations- und Erziehungsphase zu tun, also welche Erwartungen in unserer Gesellschaft an junge Frauen herangetragen werden. Andererseits liegt es auch an der unterschiedlichen Denk- und Herangehensweise von Frauen. So entstehen häufig gänzlich andere Ergebnisse, als wenn Männer das gleiche Problem bearbeiten. Daher ist es auch so wichtig, Frauen für die Ingenieursberufe zu begeistern.
Wie viele Frauen ergreifen nach einem abgeschlossenen MINT-Studium auch wirklich einen solchen Job?
Das hängt mit der Fragestellung der unterschiedlichen Verteilung der Familienpflichten und dem immer noch tradierten Familienbild zusammen. Frauen arbeiten daher mehr in Teilzeit und suchen bewusst oder auch unbewusst flexiblere Arbeitsmodelle. Ein Problem ist dabei, was für Vorstellungen auch in Unternehmen vorherrschen, welche Berufe in Teilzeit ausgeübt werden können.
Was können Unternehmen hier Ihrer Meinung nach tun?
Ein erster Ansatz wäre beispielsweise die Etablierung von (weiblichen) Doppelspitzen. So könnten sich zwei Frauen in Teilzeit eine derartige Position teilen. Auch attraktivere Wiedereinstiegsmodelle sind ein Thema, dem sich Unternehmen annehmen sollten. Davon abgesehen ist es wichtig, dass innerhalb der Firmen und den nach wie vor männerdominierten Teams aus der Branche eine Sensibilisierung stattfindet. Es muss deutlich werden, wie bereichernd die Zusammenarbeit in gemischten Teams sein kann, um Diskriminierungen vorzubeugen.
Müssen Frauen Angst vor der männlichen Konkurrenz haben, weil Sie immer noch als Exotinnen gelten, wenn es um die Arbeitssuche geht?
Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich sagen: Das war nie der Fall. Es ist gemeinhin akzeptiert, dass Frauen ebenso gut oder besser in den Ingenieursberufen arbeiten können.
Es ist gemeinhin akzeptiert, dass Frauen ebenso gut oder besser in den Ingenieursberufen arbeiten können.
Prof. Dr. Kira KastellTweet
Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht, dass Frauen sich mit anderen Frauen vernetzen, die bereits in der Branche Fuß gehabt haben?
Das hängt stark von den persönlichen Vorlieben ab. Generell ist es aber immer empfehlenswert, sich zu vernetzen – auch um sich gegebenenfalls selbst zu reflektieren. Zudem kann man von Erfahrungen anderer zu profitieren, die eventuell eine ähnliche Situation bereits erlebt haben. Da ist es ganz egal, in welchem Stadium des Berufslebens man sich befindet.
Prof. Dr.-Ing. Kira Kastell ist Vizepräsidentin der Frankfurt University of Applied Sciences, Bundesvorsitzende des Netzwerks Frauen im Ingenieursberuf des VDI und Vorsitzende des VDI-Bezirksvereins Frankfurt Darmstadt. Sie studierte Elektrotechnik an der Fachhochschule Frankfurt am Main und der FernUniversität Hagen und promovierte an der TU Darmstadt. Während ihrer Tätigkeit für die Mannesmann Arcor Ag & Co. erwarb sie, ebenfalls an der FernUniversität Hagen, die Diplome als Kauffrau und Volkswirtin. Sie ist Mitglied der hessenweiten Steuerungsgruppe Mentoring Hessen. Zusätzlich vertritt sie das Land Hessen im geschäftsführenden Ausschuss des Fachbereichstages Elektrotechnik und wurde von hessischen Hochschulen in den Rundfunkrat des Hessischen Rundfunks entsandt.