Das Welternährungsprogramm der UN wurde dieses Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Einer, der schon lange für das Recht auf Nahrung kämpft ist Globalisierungskritiker Jean Ziegler, 86. Die Ungerechtigkeit macht ihn wütend – auf gewissenlose Konzerne und "geistige Höhlenbewohner" wie die AfD. Feuer frei!
Acht Jahre lang war der Schweizer Soziologe und Autor Jean Ziegler UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Dieses Jahr bekam das Welternährungsprogramm der UN den Friedensnobelpreis. Sicherlich eine Auszeichnung, zu der auch Jean Ziegler mit seiner Arbeit beitrug.
Für die Globalisierungsbewegung ist Jean Ziegler eine lebende Ikone. Er war mit Sartre befreundet, hat Che Guevara herumchauffiert. Seine Haltung war jedoch nie revolutionärkitschig, sondern klar, weltoffen und witzig. Jede Begegnung mit ihm ist eine Bereicherung. Er ist Mitglied im UN-Menschenrechtsrat und strahlt in Zeiten von Ungleichheit und Armut die Hoffnung auf eine neue "planetarische Zivilgesellschaft" aus. Wir haben ihn bereits 2018 zum Gespräch in Frankfurt getroffen.
Bärbel Schäfer: "Steht auf! Ändert die Verhältnisse!" Dazu ermutigen Sie seit Jahren, Herr Ziegler. Wieso ist es wichtig, seine Stimme zu erheben?
Jean Ziegler: Wir leben in einer kannibalischen Weltordnung. Alle fünf Sekunden stirbt ein Kind unter zehn Jahren an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Dabei könnte die Weltlandwirtschaft problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren, fast das Doppelte der heutigen Weltbevölkerung. Trotzdem erleben wir täglich ein Hungermassaker. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. Darf man dazu schweigen?
Wir sehen Bilder der Hungernden und handeln mit angezogener Handbremse?
Ja. Deshalb sage ich immer: Steht auf, der Aufstand des Gewissens ist möglich.
Warum schauen so viele weg?
Nicht alle! Es gibt eine neue planetarische Zivilgesellschaft. Diese trägt die Hoffnung in sich, diese kannibalische Weltordnung zu stürzen. Es ist eine Bruderschaft der Nacht. Ohne Parteiprogramm, ohne Zentralkomitee. Ihr Motor ist der kategorische Imperativ, den jeder in sich trägt. Immanuel Kant schreibt: "Die Unmenschlichkeit, die einem anderen angetan wird, zerstört die Menschlichkeit in mir."
Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse.
Che Guevara, RevolutionärTweet
Wer ist diese Bruderschaft der Nacht?
Die Frauenbewegung, Attac, Greenpeace, Via Campesina, Amnesty International und andere soziale Bewegungen. Che Guevara hat gesagt: "Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse." Überall entstehen gerade diese Risse. Menschen wollen endlich Gerechtigkeit und Menschlichkeit.
Werden diese Stimmen jetzt lauter?
Ja, wir werden immer mehr. "Der Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu hören", schreibt Karl Marx an seinen Freund Joseph Wedemeyer. Das gilt heute auch wieder.
An so vielen Orten der Welt hat der Mensch vergessen, Mensch zu sein. Warum soll sich gerade jetzt etwas ändern?
Die Entfremdung ist zu stark. Menschen brauchen Menschlichkeit, aber die Welt ist beherrscht von einer Oligarchie des globalisierten Finanzkapitals. Laut der Weltbank haben die 500 größten privaten Weltkonzerne 2017 52,8 Prozent des Weltbruttosozialprodukts kontrolliert, also der Reichtümer, die auf der Welt in einem Jahr produziert werden. Sie haben eine Macht, wie sie kein König, Kaiser oder Papst je besaß.
In Ihren Augen beherrschen diese Kräfte sogar Regierungen?
Total. Sie sind die Herren der Welt, nicht mehr die Nationalstaaten. Die Monopolisierung ist extrem. Die Konzerne entziehen sich jeder staatlichen oder sozialen Kontrolle. Sie funktionieren ausschließlich nach dem Prinzip der Profitmaximierung in möglichst kurzer Zeit und zu fast jedem menschlichen Preis. Sie haben die Überschuldung der ärmsten Staaten zu verantworten, genauso wie die Manipulation der Weltmarktpreise und die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel. Und dagegen müssen Menschen endlich aufstehen.
Ist der Gegensatz zwischen der Solidaritätsbewegung und dem Streben nach Gewinnmaximierung überwindbar?
Das ist ein Kampf. Und wir sind in der Endphase. Aber es kann noch alles falsch laufen.
Rechnen Sie damit?
Die einfache, dümmliche und so giftige Sündenbocktheorie kann gewinnen. Sie besagt ja, dass die Migranten, "die Fremden", an allem schuld seien, was in der Gesellschaft schiefläuft. Dass diese Theorie ein breites Echo findet und sich in Wahlergebnissen niederschlägt, sehen wir bereits in einigen Staaten und Regionen. Wir stehen an einem Scheideweg: Die Demokratie kann verschwinden, wenn die geistigen Höhlenbewohner, wie die Antisemiten, die AfD, die Rassisten, Homophoben und Xenophoben, weiterhin frei und ungestraft agieren können. Faschistoide Bewegungen könnten so stark zunehmen, bis sie das Kollektivbewusstsein beherrschen. Dagegen müssen wir kämpfen.
Wie verschafft sich der Widerstand gegen den Hass Gehör?
Wir müssen aufklären. Das Massaker des Hungers kann durch die Öffentlichkeit gebrochen werden. Westeuropäische Staaten sind Demokratien. Da gibt es keine Ohnmacht. Finanzminister fallen nicht vom Himmel, wir können mit unseren Wahlzetteln dafür sorgen, dass sie nicht immer für die Gläubigerbanken stimmen, sondern zugunsten einer Totalentschuldung der ärmsten Länder entscheiden. Wir können die Börsenspekulationen auf Getreide und Reis verbieten. Wir, die Bürgerinnen und Bürger, können das beeinflussen, indem wir unsere Freiheitsrechte gebrauchen. Das Grundgesetz gibt uns alle Waffen an die Hand. Ich wiederhole: Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Und Deutschland ist die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und die lebendigste Demokratie Europas.
Wieso fühlen sich dennoch so viele ohnmächtig und ziehen sich deshalb ins Private zurück?
Die neoliberale Wahnidee trichtert uns das Gefühl der Ohnmacht ein. Uns wird weisgemacht, die Marktkräfte funktionierten nicht nach menschlichem Willen, sondern nach Naturgesetzen. Damit ist die Entfremdung perfekt. Viele gehen nicht mehr zur Wahl und denken, sie können ja sowieso nichts tun. Das ist falsch.
Wie lässt sich die Passivität, die so entsteht, durchbrechen?
Wie der Aufstand des Gewissens sich artikulieren wird, weiß kein Mensch. Das ist das Mysterium der befreiten Freiheit im Menschen, des revolutionären Prozesses, des Aufstandes. Wie der große spanische Dichter Antonio Machado sagt: "Wanderer, es gibt keinen Weg, den Weg machen deine Füße selbst."
Die Freiheit ist das einzige Gut, das sich nur abnutzt, wenn man es nicht nutzt.
Voltaire, PhilosophTweet
Haben wir, die wir in Demokratien leben, vergessen, dass Freiheit auch Verantwortung bedeutet?
Das ist ein Abnutzungseffekt. Die Gewaltenteilung, Menschenrechte, unsere Pressefreiheit, die Sicherheit, das Recht zur Selbstbestimmung werden von vielen Menschen in Europa leider für selbstverständlich gehalten. Voltaire sagt richtig: "Die Freiheit ist das einzige Gut, das sich nur abnutzt, wenn man es nicht nutzt."
Träumen Sie von den hungernden Kindern, von Eltern, die ihre Familien nicht ernähren können?
Wer einmal hungernde Kinder gesehen hat, der vergisst das nie. Diese Bilder kommen in der Nacht hoch. Es geht aber nicht um mich, den Kleinbürger aus Genf, und um meine Gefühle. Ich bin überhaupt kein moralischer Mensch, ich hasse diese Schublade. Ich will nur immer wieder klarmachen, was unsere Waffen sind. Wir müssen uns nur bücken und sie aufheben. Es gibt sicher böse, zynische Menschen. Aber die meisten tragen Empathie in sich. Sie wenden sich nur ab von dem hungernden Kind in Afrika, weil sie es nicht schaffen, eine innere Brücke zu ihm zu bauen.
Und können wir diese emotionale Brücke bauen?
Wenn ich fühle, dass dieses hungernde Kind eben auch mein Kind sein könnte, dann ändert sich alles. Uns trennt von den Opfern doch nur der Zufall, wo man geboren ist. Wäre meine Tochter in Nordbrasilien geboren, wäre sie heute möglicherweise eine Zuckerrohrschneiderin mit Würmern im Magen und einer Lebenserwartung von 47 Jahren. Die Entfremdung bröckelt, wenn wir anfangen mitzufühlen.
Jean Ziegler, 1934 in der Schweiz geboren, hat Soziologie studiert und bis 2002 an der Uni Genf gelehrt. Er war lange für die SP im Nationalrat, ist bekennender Kommunist und scheut sich nicht, sich durch scharfe Kritik an der Globalisierung in Politik wie Wirtschaft Feinde zu machen. 2000 wurde er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, seit 2008 ist er im Beratenden Ausschuss des Uno-Menschenrechtsrats.
Globalisierung anonymisiert die Gier. Durch gesichtslose verflochtene Konzerne bleiben Ursache und Wirkung verdeckt. Wie können wir diese Gier eindämmen?
Sie haben absolut recht. Welcher Hedgefonds in welchem Steuerparadies welchen Konzern besitzt, wissen wir oft nicht. Obwohl heute unsere Kommunikation weltweit in Echtzeit funktioniert. Wir wissen, was im Südsudan passiert, kennen internationale Konfliktherde. Wir kennen die Opferzahlen von Hungersnöten, Katastrophen und Kriegen. Wir können nicht mehr behaupten, wir haben nichts gewusst. Globalisierung schafft auch Transparenz. Das ist gut. Und das müssen wir nutzen, um die Ungleichheit abzuschaffen. Die Reichen dürfen durch Steuerreformen nicht noch reicher werden.
Ist die Ungleichheit nicht unlösbar?
Nein. Ungleichheit stört, tötet und ist moralisch nicht vertretbar. Der Inhaber der Modekette Zara hat zum Beispiel im vergangenen Jahr 1,3 Milliarden Dollar Profit gemacht, der Durchschnittslohn seiner Näherin in Bangladesch liegt bei 75 Dollar im Monat. Ungleichheit leert durch Steuervorteile und Steuerhinterziehung die Kassen und zerstört den Sozialstaat. Auch das kann jeder von uns durch sein Wahlrecht beeinflussen und damit die Umverteilung für mehr Gerechtigkeit befördern.
Sie gelten als unverbesserlicher Weiterkämpfer. Spüren Sie nie ein Gefühl der Ohnmacht?
Ich bin ein ganz normaler Mensch. Was ich tue, kann jeder tun. Das hungernde Kind kümmert sich nicht um mein psychologisches Wohlbefinden. Es geht um Effizienz und nicht um Gefühle.
Die Straße ist gesäumt mit Leichen, aber sie führt zur Gerechtigkeit.
Jean Jaurès, Begründer der Sozialistischen Partei FrankreichsTweet
Sie stellen sich dem Sisyphuskampf immer wieder aufs Neue, warum?
Ich bin ein glücklicher Sisyphus. Jean Jaurès, der Begründer der Sozialistischen Partei Frankreichs, schreibt: "Die Straße ist gesäumt mit Leichen, aber sie führt zur Gerechtigkeit." Die Menschwerdung des Menschen ist im Gange. Die Geschichte hat einen Sinn. Auch mein Leben hat einen Sinn. Es ist kein Zufall, dass ich hier bin, wenn auch nur für kurze Zeit.
Woher kommt Ihre Hoffnung?
Schon 1941 glaubten zwei verrückte Visionäre, Churchill und Roosevelt, daran, das Monster des Faschismus zu besiegen. Sie arbeiteten die Atlantik-Charta aus. Die Idee der UNO wurde geboren und damit die drei Säulen der UN-Charta: kein Elend, dafür Menschenrechte und kollektive Sicherheit für alle. Für diese Vision arbeite ich jeden Tag.
Alle drei Säulen werden doch dauernd untergraben!
Das stimmt. Sahel-Zone, Dafur-Konflikt, ja, die Menschen verhungern. Nehmen wir Syrien. Keine Blauhelme, keine humanitären Korridore. Die absolute Verrohung des Menschen. Kriege sind fürchterlich. Von den 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen praktizieren 67 die Folter. Die kollektive Sicherheit funktioniert nicht wegen des Vetorechts der Großmächte im UN-Sicherheitsrat. Bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit dürfte es aber kein Vetorecht geben, das hat schon der ehemalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan gefordert. Eine UNO-Reform muss her, damit sie endlich aus ihrer Lähmung befreit wird.
Die Interessenkonflikte innerhalb der UNO verhindern Frieden?
Natürlich. Und der Krieg in Syrien etwa hat für uns alle zwei schreckliche Konsequenzen: Die neuen Massenmörder, die Dschihadisten, können durch demokratische Rechtsstaaten nicht wirklich besiegt werden. Und zweitens die Millionen von Flüchtlingen, denen Europa größtenteils das Recht auf Asyl verweigert und damit seine eigenen moralischen Grundprinzipien einfach so zerstört.
Was passiert mit demokratischen Gesellschaften, wenn Rechtsextreme wieder erstarken oder sogar politisch legitimiert werden?
Es geht um unseren Rechtsstaat, es darf keine Konzession geben. Antisemitismus ist ein Verbrechen im Sinn des Strafgesetzbuchs. Täter müssen verurteilt werden. Wenn die AfD die Nazis rehabilitiert, muss sie der Rechtsstaat sanktionieren. Das gilt genauso bei Xenophobie, Homophobie und Rassismus.
Passiert das in Ihren Augen genug?
Nein. Noch nicht.
Wenn Sie von etwas Schönem träumen, was wäre das?
Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gibt es heute keinen objektiven Mangel mehr. Es wäre Nahrung für alle da. Und auch materielles Glück für alle Menschen wäre möglich, wenn die Güter dieser Erde gerecht verteilt würden. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.