Radical Selfcare: „Ich finde mich toll!“
Die Message der neuen Lifestyle-Gurus aus den USA: radikale Selbstliebe! Gala Darling oder Gabrielle Bernstein lehren in Seminaren und Büchern: Hör auf dich mies zu machen, feiere dich für deine innere und äußere Schönheit! Äh ... und wie geht das?
Die Wörter "radikal" und "Selbstliebe" in einem Atemzug zu benutzen, fühlt sich ganz schön absurd an. Sich radikal, also voll und ganz selbst zu lieben – schließt sich das nicht per se aus? Ich bin sicher kein Einzelfall, wenn ich sage, an manchen Tagen eher Selbsthass als -liebe zu spüren. Und dass der idiotischerweise schon mal durch mies sitzende Haare ausgelöst werden kann. Der weibliche Fokus auf vermeintliche Mängel ist weitverbreitet. Hinzu kommen all die Vorwürfe, mit denen Frauen unbewusst ihr Inneres attackieren: „Ich bin zu ... redselig oder schweigsam, hektisch oder träge, vorlaut oder schüchtern, pflichtbewusst oder disziplinlos.“ Und all die zermürbenden „Ich kann das nicht/bin nicht gut genug“-Gedanken.
Ich kann ja schlecht im Büro „Ich liebe mich“ vor mich hinbrabbeln
Und weil es so viele gibt, die mit sich hadern, gibt es auch so viele, die selbstzerfleischenden Frauen wie uns helfen wollen. Deshalb werden „Self Love“-Botschafter gefeiert wie nie zuvor. Wichtiger Name in diesem Kontext: Gabrielle Bernstein. Sie ist die It-Woman New Yorks, früher süchtig nach Erfolg und Exzess, heute Yoga-Lehrerin, Bestseller-Autorin und gerne betitelt als „New Spiritual Leader“. Ihr Buch „Spirit Junkie“ trägt den Untertitel: „A Radical Road to Self-Love and Miracles“. Auch ihr neueres Werk „Könnte Wunder bewirken“ ist eine konkrete Anleitung zur Selbstliebe, mit 40-Tage-Programm. Ich habe es durchgeackert, als in mir eher seelischer Eissturm herrschte statt feurige Affäre. Ich wusste, dass ich etwas ändern musste, dass Kopfstand nicht mehr ausreicht, um inneren Frieden zu finden.
Selbstliebe braucht Übung. Viel Übung. Aber ich spüre, wie gut sie tut
Gabrielle Bernstein empfiehlt in ihrem Buch Meditationen, Affirmationen und Tagebuchschreiben, verpackt in ganz konkreten Übungen. Im ersten Kapitel soll man erst einmal seine Ängste wahrnehmen, das Leben mit Dankbarkeit betrachten und sich selbst verzeihen. Das sei deshalb so wichtig, weil ständige Selbstangriffe nicht zu einer liebevollen Sichtweise führen. Weder auf sich selbst noch auf andere Menschen.
Ich machte also eine Liste in meinem Kopf, für was ich dankbar bin, an mir selbst und im Leben im Allgemeinen. Eigentlich ganz schön viel, wenn ich so in Ruhe darüber nachdenke: dass ich gesund bin, Arme und Beine habe, mein Geist funktioniert, ich nicht nur ein Dach über dem Kopf habe, sondern in einer schönen Wohnung wohne, dass ich meinen Sohn habe, er gesund und munter ist, ich nicht hungern muss, meine Haare glänzen, mein Bett gemütlich ist, ich gute Freunde habe ... Die Liste wird ziemlich schnell ziemlich lang.
Ich schreibe mir einen Selbstvergebungsbrief
Am nächsten Abend soll ich mir einen Selbstvergebungsbrief schreiben. „Lassen Sie immer mehr Liebe in Ihren Brief einfließen!“ Ein bisschen peinlich ist mir das, obwohl es keiner (hoffe ich zumindest) jemals lesen wird. Vielleicht sollte ich das Tagebuch verbrennen, grüble ich vorm Einschlafen. Komisch, dass es mir so unangenehm ist, mir selbst einen Liebesbrief zu schreiben. Im zweiten und dritten Kapitel geht es um die Selbstwahrnehmung und ein neues Körperbild. Dazu macht man Lichtmeditationen oder zum Beispiel eine Affirmation, die man immer dann leise oder laut aufsagen soll, sobald man beispielsweise bemerkt, dass man sich mit anderen vergleicht, wenn man sich schlechter fühlt als andere, leidet, grübelt oder auch wenn man sich dabei ertappt, aus Frust und Ungesundes zu essen.
Lichtmeditation gegen Heißhungerattacken
Am Mittag in der Redaktion stopfe ich mir automatisch Lakritzschnecken rein, weil es stressig ist, oder ich mich stressen lasse. Huch, die Affirmation! Kann ich ja jetzt schlecht laut vor mich hinbrabbeln im Großraumbüro. Also schlage ich unauffällig mein Tagebuch in der Handtasche auf und spreche in Gedanken: „Meine Fehlwahrnehmung meines Körpers ist ein Angriff auf mich selbst. Heute kehre ich den falschen Wahrnehmungen meines Egos den Rücken und entscheide mich stattdessen für die Liebe.“ Das fühlt sich anfangs albern an, aber das Seltsame ist: Es wirkt. Vielleicht weil es wie ein gutes Geheimnis ist, etwas, dass ich nur für mich tue. „Ich entscheide mich für die Liebe.“ Toller Satz, oder?
Sitzen, beobachten – nicht bewerten
Jeden Morgen setze ich mich von nun an auf mein rosafarbenes Meditationskissen und versuche still zu werden. Erst mal wird es allerdings extrem laut, weil die Selbstgespräche, die ich mit mir führe, nicht nur liebevolle Dialoge sind. Die Idee ist: sitzen, beobachten, nicht bewerten – und am anderen Morgen wieder das Gleiche. Das ist die Praxis, das ist alles, was man tun muss. Was es bringt? Ich lerne mich besser kennen, die Voraussetzung, um sich radikal selbst zu lieben. Ich komme mir näher, so wie man einem fremden Menschen näherkommt. Ich merke: Es braucht Übung, viel Übung, es gibt Rückschläge, und es ist erstaunlicherweise ungleich schwerer, zu seinem eigenen Spiegelbild laut zu sagen „Ich liebe und akzeptiere dich!“, als einem Wildfremden in einer Bar ins Ohr zu flüstern, dass man die Nacht mit ihm verbringen will. Bei Gabrielle Bernsteins Programm dauern diese täglichen Meditationen zwar nur ein paar Minuten – soll ja für jedermann im Alltag machbar sein. Aber ich bemerke schon nach ein paar Tagen, dass ich immer länger sitzen bleiben möchte, so beruhigend wirkt es auf mein Gemüt. Dass es keine Erfüllung außerhalb von mir selbst gibt, ahnte ich schon länger, durch diese praktischen Übungen erfährt man es aber viel körperlicher als nur darüber zu lesen.
Vom Selbstekel zur Selbstliebe
Um Meditationen, Affirmationen und Dankbarkeitslisten geht es auch bei „Modern Day Guru“ Gala Darling, New Yorker Bloggerin mit knapp 150 000 Instagram-Followern und Autorin des Beststellers „Radical Self Love“. Die exzentrisch aussehende Gala Darling, die Pink und Pailletten liebt, will anderen Frauen dabei behilflich sein, sich in sich selbst zu verlieben. Sie bietet sogar „Radical Self Love“-Bootcamps an. Man erhält dreimal wöchentlich Mails, Essays, Arbeitsblätter, Tonaufnahmen, die einen durch die Transformation vom Selbstekel zur Selbstliebe begleiten sollen. Ihre Botschaft: „Sei gut zu dir selbst, kümmere dich um deinen Geist und entspanne dich. Denn du bist bombastisch!“ 30 Tage kosten 100 Dollar.
Dankbarkeits-Diary statt aus Frust Schuhe shoppen
Ich bin nicht sicher, ob ich die nicht besser in eine Sauerstoffbehandlung bei der Kosmetikerin oder ein Paar Schuhe investieren soll – entscheide mich dann aber für den Kurs. Darin werde ich unter anderem dazu aufgefordert, ein Dankbarkeits-Diary zu führen. Die Idee ist nicht neu, sie gilt unter Psychologen als heißer Tipp für Menschen, die sich mit tristen Gedanken das Leben schwer machen. Gala Darling nennt ihre Version dieser Methode „Thankful Thursday“ – in einem selbst gebastelten Tagebuch soll man jeden Donnerstag durch Fotos, Texte oder Zeichnungen festhalten, was man im Leben schätzt. Offenbar funktioniert ihr Online-Kurs, zumindest stehen auf ihrer Website viele Danksagungen: Cat schreibt dort, dass sie mit Galas Hilfe herausfand, dass sie sich immer selbst sabotiert habe, vor lauter Angst, sie würde zu sehr scheinen und möglicherweise jemand anderen blenden. Heute stellt sie ihr Licht nicht mehr unter den Scheffel, sondern strahlt radikal. Caitlin berichtet, dass das Bootcamp sie dazu befähigt hat, ihren Ängsten ins Auge zu sehen und ihre Träume und Ziele neu zu stecken. Viele bewahren die Mails aus dem „Self Love Bootcamp“ in einem Extra-Ordner auf wie einen Schatz, um immer wieder darauf zurückzugreifen.
„Vielleicht habe ich mich ja in mich selbst verknallt.“
Natürlich hatte Erich Fromm recht: Wenn man sich selbst nicht lieben kann, wie zur Hölle soll man dann eine andere Person lieben? Menschliche Wesen haben auf diesem Gebiet extrem feine Antennen. Selbstliebe lässt sich an nichts Äußerem festmachen, aber spürt man nicht immer sehr genau, wie jemand zu sich steht? Vielleicht deshalb, weil wir nicht an unserer äußeren körperlichen Schicht, der Haut, enden, sondern darüber hinaus strahlen. Vielleicht ist es ein Energiefeld oder was auch immer. Fakt ist, dass mein Friseur eines Tages fragt, was mit mir los ist, ob ich verliebt sei. Ich streite es ab, weil ich es leider nicht bin, aber er meint: „Dann verrat mir mal, warum du so strahlst?!“ Keine Ahnung, denke ich, vielleicht habe ich mich ja in mich selbst verknallt.