"Die Begegnung, die alles verändert hat" - das war das Thema unseres Schreibwettbewerbs, an dem sich zahlreiche EMOTION Leserinnen beteiligt haben. Hier möchten wir Ihnen die ersten sieben Plätze vorstellen.
Ute Schwarz hat in unserem Schreibwettbewerb mit ihrer Geschichte "Eiszeit" den ersten Platz gewonnen. Wir freuen uns auch für Christine Zureich, die nicht nur bei uns den zweiten Platz gewonnen hat, sondern deren Geschichte auch im Sammelband des MDR Literaturwettbewerbs erscheint -- weshalb wir sie an dieser Stelle leider nicht vorstellen können.
Dafür können Sie lesen, womit uns Karolin Hofer (Platz 3) Paloma Bregenzer (Platz 4), Nadine Bonnard (Platz 5), Juliane Martius (Platz 6) und Susanne Henkel (Platz 7) begeistert haben.
Platz 1: Eiszeit
von Ute Schwarz
Wir reden nicht mehr viel miteinander. Gestern Abend hatten wir schweigend nebeneinander gesessen und dem Fernsehprogramm zugesehen. Seufzend trage ich die leeren Gläser in die Küche zurück. Paul, denke ich, würde das nicht gefallen, uns so zu sehen. Er hätte uns beide an den Händen genommen, dabei den Kopf im Rhythmus seines Lieblingsliedes bewegt und sich mit hilfloser Kindlichkeit fest an uns gedrückt. Seine kleine Welt beinhaltete noch keine schlechten Gefühle.
Resigniert streiche ich mir eine Haarsträhne hinter das rechte Ohr und lehne mich mit verschränkten Armen an den Rahmen der Schlafzimmertür. Sein Gesicht. So verletzlich im Schlaf. Wie sein Gesicht ausgesehen hatte, wenn er sich über sie gefreut hatte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er dieses schwarze Cordhemd getragen, mit abgewetzten Ärmeln und einem zu großen Kragen, wie aus einer anderen Zeit. Dieses Hemd also, das er zuletzt auf der Beerdigung angezogen hatte.
Weißt du, murmele ich, ich habe heute Nacht geträumt, Paul sei vielleicht gar nicht gestorben. Immer der gleiche Traum. Paul lächelt mich an. Wie eine Fotografie. Dann wird er größer und größer, bewegt sich auf mich zu und verschwindet. Ich halte es schwer aus.
Es war ein Unfall. Unglückliche Umstände sagten die Leute. Dabei hatte er Paul nur kurz allein gelassen. Um die Eispackung aus der Tiefkühltruhe im Keller zu holen. Zitrone war Pauls Lieblingssorte. Sie hatten den Teich neben dem Gartenbeet vergangenen Monat zuschütten lassen, die Goldfische und Wasserpflanzen an dankbare Abnehmer verschenkt.
Manchmal höre ich ihn nachts. Seine unruhigen Schritte. Er duscht lange und heiß. Dann setzt er sich in die Küche und trinkt Wein. Ich kann es hören, das Plopp beim Öffnen der Flasche. Seit einiger Zeit schluckt er morgens immer diese Tabletten zusammen mit starkem Espresso. Ich habe aufgehört mich in der Zeit zu bewegen, sagt er. Du hast mit vielem aufgehört, antworte ich. Er macht sich nicht die Mühe seinen Zustand vor mir zu verbergen. Die Schuldgefühle nagen an ihm, haben sich bereits tiefer eingenistet, als er es sich eingestehen kann. Seine Verzweiflung wurzelt in jeder noch so kleinen Regung. Ich schüttele ruckartig den Kopf, ziehe die Rollos hoch, mache die Balkontür auf und beuge mich über das Geländer. Es dauert einen Moment. Bis ich mich wieder gefasst habe. Ich sehe, dass er sich aufgesetzt hat, den Rücken mir zugewandt. Etwas hat sich verschoben. Das mich davon abhält, ihn anzufassen, zu umarmen. Ich weiß, dass es auch heute nicht dazu kommen wird. Möchtest du einen Kaffee? Gern, sagt er, ja gern.
Früher hatte er immer über die viele Arbeit geklagt. Der versäumten Zeit hinterhergejammert. Zeit? Wofür eigentlich? Ich war mir nicht mehr sicher, was es hieß seine Zeit sinnvoll zu nutzen. Denn was sollte man mit dem ganzen Sinn anfangen, wenn die Zeit doch irgendwann keine Bedeutung mehr hatte.
Kurz vor Mittag verlässt er das Haus. Sein Weg führt ihn in den nahe gelegenen Park. Er fragt mich schon lange nicht mehr, ob ich mitkommen wolle. Früher hatte er sich morgens immer umgedreht, zu unserem Haus hingesehen, die Hand gehoben und gewinkt. Ich hebe dennoch grüßend den Arm hinter der Gardine.
Als wir ein Paar wurden, kannte ich Paul bereits aus seinen Erzählungen. Er hatte mir schon bei unserem ersten Treffen von ihm berichtet. Dem kleinen Bruder, dem ungeplanten Nachzügler, der mit einer genetischen Störung auf die Welt gekommen war. Ich wusste um die anfängliche Bestürzung seiner Eltern, die Ehe hatte dem Druck nicht standgehalten. Die Mutter, die dennoch verzweifelt versucht hatte, das Kind zu lieben. Die Krankheit. Depression, Schwermut. Er war über den Tod seiner Mutter nie ganz hinweggekommen, hatte aber keine Sekunde überlegt, als es darum ging die Vormundschaft von Paul zu übernehmen.
Das war, was ich wusste, als ich Paul zum ersten Mal gegenüberstand. Was ich im Laufe der Beziehung noch kennenlernen sollte, waren die zahlreichen Arztbesuche, die Termine beim Logopäden, beim Physiotherapeuten, die intensive Auseinandersetzung mit dem Kind. Die Wochenenden verbrachten wir zu dritt. Es fiel mir anfangs schwer. Natürlich hätte ich den Freund gern für mich allein gehabt. Ich lernte damit umzugehen. Schwerfällig trete ich in den Garten hinaus. Setze mich in die Schaukel, die eigens für Paul aufgestellt worden war. Das Lachen des Kindes, sobald es angeschubst wurde. Die bedingungslose Liebe, die das Kind mir entgegenbrachte. Bald hatte es sich angefühlt, als wäre Paul immer schon Teil meines Lebens gewesen. Ich spiele mit meinen nackten Zehen im Gras, zwei Spatzen streiten sich um die Brotkrumen, die ich jeden Morgen auf die Terrasse streue, flattern auf, als der Kater vom Nachbarn aus der Hecke springt. Paul hatte mir das Sehen beigebracht. Mit seinen patschigen Händen jedes noch so kleine Insekt angeschleppt. Staunen, beobachten, wie behutsam das Kind damit umging. Seine ganz eigene Sprache. Eine Sprache ohne Worte.
Seit dem Unfall ist fast ein ganzes Jahr vergangen. Ich treffe mich wieder regelmäßig mit meiner besten Freundin. Jeden ersten Donnerstag im Monat. Er hat sich nicht dazu geäußert. Das muss er auch nicht, denn ich spüre die Missbilligung auch so. Bea wundert sich, wieso ich weiterhin bei ihm bleibe. So kann es nicht weitergehen, wiederholt sie mit schöner Regelmäßigkeit. Du musst eine Entscheidung treffen. Es ist schließlich auch dein Leben. Während Bea dies sagt, funkelt sie empört mit ihren großen Augen, drückt energisch meine Hände. Insgeheim bewundere ich den unerschütterlichen Glauben der Freundin, selbst größte zwischenmenschliche Probleme mit dem rationalen Verstand lösen zu wollen. Einmal hatte ich scherzhaft zu ihr gesagt, sie arbeite wie ein Antivirenprogramm. Durchsuche so lange alle Lebensdateien, bis der vermeintliche Schädling gefunden sei, um ihn zu löschen. Nach dem Motto "Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden!" hatte Beas längste Beziehung gerade einmal zwei Monate gehalten. Er hat zu sehr geklammert, meinte sie damals mit einem achselzuckenden Lachen. Sie spricht niemals über ihre zerbrochenen Beziehungen. Die meisten Leute halten Bea deshalb für oberflächlich. Doch das ist ihre Art mit dem Leben umzugehen.
Wollen wir noch eine Flasche Rioja öffnen. Beas Frage vom vergangenen Donnerstagabend. Gern. Nach längerem Suchen des Korkenziehers stießen wir miteinander an, sagten nichts dazu. Der Wein schmeckte auch nach dem vierten Glas noch nach feinen Gewürzen, die Säure prickelte im Hals. In meinem Kopf drehte sich etwas, was ich gern gewähren ließ. Irgendwann waren wir beide übermütig geworden. Die Leichtigkeit vergangener Zeiten hatte sich eingestellt. Gekicher, Kissen werfen, tanzen, sich mit den Weingläsern in den Armen liegen. Im Fernsehen zeigten sie im Spätprogramm eine Reportage über streunende Hunde in Rumänien. Ich blickte plötzlich in zwei traurige Augen einer ausgezehrten schwarzen Labradorhündin. Augen, die eine ganze Geschichte zu erzählen schienen, eine Geschichte von Leid, Entbehrungen und großer Einsamkeit. Augen, die mich an ihn erinnerten. Ich musste weinen. Über das Schicksal der Tiere. Die Ungerechtigkeit der Welt. Ob es an der Trunkenheit lag oder an Beas Hartnäckigkeit – ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass die Freundin heute mit mir ins Tierheim fährt.
Wir nehmen die zweite Ausfahrt nach dem Autobahnkreuz, fahren durch ein Gewerbegebiet, vorbei an einer Sportgaststätte, auf einer schmalen Straße durch einen dichtbewachsenen Wald. Das terrassenförmig angelegte weiße Gebäude mit den großen, bodenlangen Fenstern erinnert mich unweigerlich an ein Krankenhaus. Ich bleibe zögernd stehen, höre das Bellen der Hunde, aggressives Knurren vermischt sich fast rhythmisch mit tiefen anklagenden Tönen, dazwischen hoffnungsvolles Winseln. Am Eingang werden wir freundlich von einer Mitarbeiterin begrüßt. Nach dem Grund unseres Besuchs gefragt. Der lange Korridor erlaubt uns nur kurze Blicke in die anderen Trakte. Den Kopf nach rechts und nach links, das Knacken meiner Halswirbelsäule. Ich schrecke hoch, weil ein Hund mit voller Wucht gegen die Scheibe seines Geheges springt. Hefte meinen Blick auf die an den Wänden angebrachten Tafeln: Quarantänestation – Zutritt nur für Mitarbeiter, Wochenarbeitspläne, Veranstaltungstermine, festgelegte Fütterungszeiten, Regelungen zum Gassigehen, Namen von Leuten, die eine Patenschaft für Hunde übernommen haben, Spendenaufrufe. Die Präsenz der vielen Hunde, der Tiergeruch, ich halte insgeheim die Luft an und verspüre den Drang, durch den Hinterausgang ins Freie zu laufen. Vor mir lacht Bea über irgendetwas, das ihr die Tierpflegerin gerade erzählt hat.
Als beide in den linken Trakt abbiegen, beginne ich schneller zu laufen. Ein rascher Griff nach der Türklinke und ich stehe im Freien. Durchatmen, aufatmen. Vor der Sonne stehen Wolken. Plötzlich ist es kühl geworden. Unschlüssig, ob ich wieder in das Gebäude zurückkehren soll, bleibe ich fröstelnd stehen, ziehe die Ärmel meiner Strickjacke über die Handgelenke. Mein Blick heftet sich an eine mächtige Eiche, die mit ihren Ästen den gesamten Außenbereich des Tierheims einzunehmen scheint. Ein schmaler Kiesweg von akkurat geschnittenen Buchsbäumen eingefasst, schlängelt sich an dem Baum vorbei, bis zum Zaun und zurück zur Tür, wo beidseitig neben einer Parkbank aus hohen Terrakottagefäßen Fächerpalmen herausragen. Die Stimmigkeit des Bildes bewirkt in mir eine plötzliche Müdigkeit. Ich schließe unwillkürlich die Augen, lasse mich geradewegs ins Gras fallen. Geht es Ihnen gut, brauchen Sie etwas, die Frage einer Tierheimpflegerin beendet den lebhaften Traum, in dem ich ihn verzweifelt bei Hitze geküsst hatte, mit Haut und Haar. Sie betrachtet mich sorgenvoll, bedächtig und ruhig. Mir geht es tatsächlich nicht gut, denke ich, mir geht es schon seit Monaten nicht gut. Ich sage, danke, ich habe alles, was ich brauche. Wirklich, vielen Dank.
Hier bist du also, die atemlose Stimme meiner Freundin. Du hättest wenigstens dein Handy anschalten können. Sie lacht grundlos, hakt sich bei mir ein. Zieht mich ins Innere des Gebäudes. Foxi wird dir gefallen, sagt sie. Wir bleiben vor einem Hundezwinger mit einem tapsigen kleinen Welpen stehen. Nett anzuschauen. Bea redet munter weiter, zählt die Vorzüge eines Havanesers auf, dennoch dringen ihre Worte nur bruchstückhaft zu mir durch. Beim Strecken meines schmerzenden Rückens schweift mein Blick unbeabsichtigt nach rechts. Plötzlich ist alles von Bedeutung, der Tag, die Stunde, mein Name, das Datum und der Ort meiner Geburt. Zwei verschiedenfarbige Augen blicken mich ausdruckslos an. Augen, die zu sagen schienen, zu spät, meine Liebe, du kommst zu spät. Alles ist weg. Und ich denke, das wird nie aufhören. Und ich weiß, dass ich ihm helfen möchte. Die Tierheimmitarbeiterin will mir den Dobermannrüden ausreden. Der Hund brauche eine feste Führung, jemanden, der mit einem vernachlässigten, geschlagenen Zwingerhund klarkomme. Ich nehme ihn dennoch mit, halte seine Leine während der ganzen Autofahrt fest in meinen Händen. Bea öffnet mir kopfschüttelnd die Tür, in spätestens einer Woche wirst du den Hund wieder zurückbringen, ruft sie mir zum Abschied zu.
Ein Gefühl der Unruhe überfällt mich, als hätte ich mich falsch entschieden und müsste es schon bereuen. Es lässt mich nicht los, auch nicht, als ich die Haustür aufschließe und der Hund mir widerstrebend und mit eingezogener Rute folgt. Ich will mich zu ihm hinunterbeugen, doch er lässt mich nicht an sich heran. Schüttelt unwirsch den Kopf, schaut wachsam, um bei jeder noch so kleinen Bewegung reagieren zu können. Während ich meine Jacke ausziehe und das Wohnzimmer betrete, sehe ich über der Kommode das Netz einer kleinen Spinne, ertappe mich, wie ich ebenfalls auf Geräusche im Haus höre. Was ich höre, ist ein brummendes Insekt, das sich in den Falten des langen Vorhangs verfangen hat. Noch ehe ich das Fenster aufreißen und das Insekt hinausbefördern kann, ist der Hund schon herbeigesprungen und beginnt mit lautem Bellen nach der Fliege zu schnappen. Irgendwann wird das Brummen leiser, erstirbt. Der Vorhang ist zerrissen, auf dem Teppich zeigt sich ein dunkler Fleck. Ich will auf den Hund zugehen, um ihn an die Leine zu nehmen. Doch der Hund bewegt sich rückwärts, knurrt drohend, sieht mich unverwandt an.
Niemals sollst du fremden Hunden in die Augen sehen, höre ich die Stimme meiner Mutter. Dennoch halte ich dem Blick stand. Es war ein Fehler, denke ich, während ich langsam nach oben schleiche, geräuschlos, mit dem Rücken zur Wand, immer weiter nach oben, bis zur Tür seines Arbeitszimmers. Ich weiß nicht, ob er da ist, ich weiß nur, ich würde die Tür öffnen, ihm die Sache mit dem Hund beichten müssen, denn gleich würde der Hund loslaufen und die Treppe hochjagen. Die Angst nimmt mir den Atem, drückt mir den Körper zusammen, lässt die Vergangenheit wieder aufleben. Ich sehe Bilder von einem Mädchen, das an der Fußgängerampel einen Hund streicheln will und dabei gebissen wird. Spüre den Schmerz, die Unsicherheit. Nervös ertaste ich mit beiden Händen die Türklinke, drücke sie, renne hinein, sehe beim kurzen Blick zurück, dass mir der Hund tatsächlich gefolgt ist. Rumms. Vor der Tür erhebt sich lautes Gebell. Ich setze mich in den Sessel, mein Herz rast noch immer. Durchatmen, aufatmen. Erst jetzt bemerke ich, dass das Zimmer leer ist, obwohl im Hintergrund der Fernseher läuft. Mein Handy habe ich wie üblich nicht griffbereit, schwöre mir hoch und heilig, es zukünftig immer bei mir zu tragen. Vom Bett aus schaue ich in den Abendhimmel und zünde mir eine von seinen Zigaretten an. Mir wird schwindelig vom Rauchen. Ich wünschte, die Haustür würde ins Schloss fallen, ich wünschte, er wäre daheim. Die Geräusche des Fernsehers machen mich müde. Als ich wenig später hochschrecke, ist das Bellen verstummt, stattdessen höre ich seine Stimme. Er schien im Wohnzimmer mit jemandem zu reden. Vorsichtig schlüpfe ich die Treppe hinunter. Von der letzten Stufe aus sehe ich hin. Er redet beruhigend zu dem Hund, der sich vertrauensvoll an ihn drückt und ihn dabei nicht aus den Augen lässt. Ein kurzes Lächeln umspielt seinen Mund. Ich bleibe stehen, nur um ihn anzuschauen. Er sieht mich nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich dort sitze. Ich weiß nur, dass ich mich irgendwann umdrehe und unbemerkt die Treppenstufen wieder hinaufsteige.
Platz 3: Zauberbergfeeling
von Karolin Hofer
Frisch gebackener, lauwarmer Blaubeerkuchen. Bestäubt mit Puderzucker. Meine Sinne werden gleichzeitig durch den Duft von geröstetem Kaffee und der wohligen Atmosphäre geflutet. So viel Geschmack hätte ich Davos gar nicht zugetraut. Die Einrichtung erinnert an eine nostalgische Puppenstube. Ich blicke auf rot-weiß-karierte Herzchen, Kuhglocken und Schafsfelle. Mit Hingabe beschriftete Schiefertafeln weisen auf die angebotenen Köstlichkeiten hin. Ein kleiner Tisch im Nebenraum ist noch frei. Fast eine Entschädigung für die Katastrophe von gestern. Das abrupte Ende meines Skiurlaubes. Vor der Hütte bin ich ausgerutscht. Radiusfraktur. Arm gebrochen. Chris und die anderen dürfen nun noch fünf Tage bei Traumwetter und Pulverschnee die Berge genießen. Ich kann mit dem Arm nicht einmal allein mit dem Auto zurückfahren.
Jäh werde ich durch ein lautes Klopfen auf den Tisch aus meinen Gedanken gerissen. Ohne abzuwarten setzt sich ein Junge zu mir. Ich schätze ihn auf höchstens zwanzig, er trägt Hip-Hop-Kleidung in neon-grün, ist groß und schlaksig. Es scheint ihn gar nicht zu stören, dass dies MEIN Tisch ist und ich gerade bestellen möchte. Merklich desinteressiert schaut er sich um. Seine Hände halb lässig, halb unsicher in den Taschen versteckt, legt er dann los "Hey, ich bin Jan – Lust 'n bisschen zu quatschen?" Schockiert, dass hier sämtliche Grenzen meiner Privatsphäre innerhalb weniger Sekunden mit einer unfassbaren Leichtigkeit überschritten werden, antworte ich förmlich: "Marie Heidmann, freut mich". Dabei strecke ich ihm meine Hand entgegen, als sei er ein Geschäftspartner. Jan beugt sich vor, reicht mir verwundert seine und lässt sich anschließend zurück in den Stuhl fallen.
Als wir so dasitzen, mustert er mich grinsend, blickt mir erstaunlich tief in die Augen und fragt: "Bist du zufrieden mit dem Leben, das du führst?". Eine einfache Frage und erschreckenderweise ein Volltreffer Ich habe einen Kloß im Hals. Hat dieser Hip-Hop-Typ mich das ernsthaft gerade gefragt? Wirke ich tatsächlich so frustriert? Ich starre zurück und versuche mit aller Kraft mikroliterweise meine Tränenflüssigkeit zurückzuhalten. Ich gewinne den Kampf, sitze aber wie versteinert da. Technisches k.o. in der ersten Runde. Mein Hals ist zugeschnürt und ich ringe nach Luft. Was glaubt der, wer er ist? "Für dich auch 'nen Cappuccino?" fragt er nun, während er lässig mit seinem Stuhl vom Tisch wegrückt, grinsend, als hätte er gerade einer alten Dame den Geldbeutel geklaut.
Meine Augen werden größer, denn ich verstehe nicht ganz und schaue ihn fragend an. "Hier ist Selbstbedienung", sagt er im gleichen trockenen Tonfall, in dem er mir gerade ein Messer in die Brust gerammt hat. Er geht zur Theke. Ich bleibe. Komme nicht los von hier. Der Rest des Gespräches dreht sich um die möglichen Ausflugsziele in Davos und die wunderschöne Landschaft. Gespickt von unangenehmem Schweigen.
Natürlich weiß ich, dass ich das mit der Zufriedenheit noch lernen muss, aber dafür gibt es nun mal keine Bedienungsanleitung. Ich habe alles, aber das Wichtigste fehlt mir. Ich kann Zufriedenheit nicht kaufen, aber brauche sie so dringend. Sonst funktioniere ich weiterhin nur und lebe nicht. Bis heute habe ich nie in Erwägung gezogen, etwas zu ändern, denn es hätte bedeutet, sich Gedanken über das eigene Leben machen zu müssen. Die Beziehung zu Chris, die tagtägliche Arbeit mit frustrierten Gästen im Hotel. Jetzt Davos. Irgendwie fühle ich mich hier fehl am Platze. Wie generell in meinem Leben. Ich suche den Sinn, weiß nur nicht so recht, worin er liegt. Ich habe Chris. Er ist ein erfolgreicher Banker. In Hamburg haben wir gerade eine Wohnung gekauft. Altbau. Leben im Luxus. Als Physiotherapeutin leite ich die Wellness-Abteilung eines Fünf-Sterne-Hotels. Aber so richtig zufrieden?
Am nächsten Morgen komme ich wieder in das Café. Vermutlich darf Jan wegen seines Hustens auch nicht auf die Piste. Stattdessen sitzen wir da und sprechen über das Leben, das Glück und die Endlichkeit. Es vergeht von nun an kein einziger Tag, an dem wir nicht zusammen unterwegs sind. Wir machen Ausflüge zum Après Ski, tanzen uns zu albernen Schlagern die Seele aus dem Leib. Jan muss bei jedem zweiten Lied pausieren, weil seine Erkältung noch immer nicht ganz verschwinden mag. Dafür pfeift er mir hinterher. Wir feiern und nehmen die letzte Gondel ins Tal.
Am Folgetag hat Jan einen Termin in der Kurklinik und ich fahre mit dem Bus dorthin, um ihn zu treffen. Als ich im Foyer sitze, kommt ein Patient mit Sauerstoffschlauch unter der Nase auf mich zu. Mir stockt der Atem. Wir schauen uns an. "Mukoviszidose. Die fünf Wochen Davos helfen mir, einigermaßen übers Jahr zu kommen", sagt er, als sei es die alltäglichste Situation der Welt. Erschrocken blicke ich Jan an. "Meine habe ich schon übertroffen, falls du nach der Lebenserwartung fragen möchtest. 20 Jahre wurden mir prognostiziert. Ich bin jetzt 22, also schon in der Kür des Lebens. Die Pflicht ist erfüllt!" Ich bin schockiert. Denke an all die Dinge, die man auf später schiebt. Wie benommen begleite ich Jan zur Physiotherapie. Das hier ist sein Hotel.
Vroni empfängt ihn mit einer herzlichen Umarmung. Selbst die Angestellten strahlen hier eine unfassbare Ruhe und Zufriedenheit aus. Dafür bräuchten wir in Hamburg Motivationsseminar. Es scheint alles anders. In dieser eigenen Welt hier hoch oben in den Bergen. Ich nehme im Flur Platz und warte. Mir gegenüber hängt ein schwarzes Brett. Es werden zahlreiche Kurse und Anwendungen angeboten. Plötzlich schlägt mein Herz schneller. An der Pinnwand lese ich: "Physiotherapeut/in gesucht. Einstieg sofort. Inkl. 20qm Appartement und Verpflegung."
Hatte ich den Beruf nicht mal erlernt, um kranke Menschen gesund zu machen, statt Gesunde in einem diffusen Krankheitsgefühl zu bestärken? Zuletzt dachte ich, sich im Leben mit reichen und gesunden Menschen zu umgeben, macht glücklich und färbt ab. Doch erst die, die nicht alles haben und kämpfen müssen, zeigen einem den Weg. Jan reißt mich aus meinen Tagträumen. Wir verbringen einen wunderschönen letzten Tag beim Schlittenfahren. Was soll nur nach Davos werden?
Kurz bevor Chris und ich die Heimreise antreten, bitte ich Chris, noch kurz am See anzuhalten. Die Stimmung zwischen uns ist so kalt wie die Winterluft.
Völlig entspannt sitzt Jan auf dem Steg. Als hätte er gewusst, dass ich komme. Wir sehen uns an und es bedarf keiner Worte. Er hat mich verändert. Gedanken losgetreten, die wie eine Lawine alles mitgerissen und dabei etwas Wunderbares freigelegt haben.
Ohne aufzublicken sagt er: "Ich habe eben bei der Physio übrigens Vroni gefragt. Du hast die Stelle. Wann kannst du anfangen?" "Anfangen womit?", frage ich reflexartig.
"Meinst du, ich habe deinen sehnsüchtigen Blick nicht gesehen? Mach es, du bist die Richtige für Davos!", sagt er und grinst spitzbübisch der Sonne entgegen, die sich im See spiegelt.
Es braucht nicht viel, um zufrieden zu sein. 20 Quadratmeter. Und den Mut, auf sein Herz zu hören und die Chance, etwas vom Glück zu teilen. Seit drei Jahren bin ich nun hier und freue mich jeden Frühling auf die Wochen mit Jan. Und über jedes Jahr, dass er am Leben ist.
Schreibwettbewerb Begegnung Platz 4 und 5
Platz 4: Bild in Bild
von Paloma Bregenzer
Tomaten und Hackfleisch, dachte ich, als ich vom Büro langsam nach Hause schlenderte. Wie jedes Jahr an diesem Abend. Auch ansonsten war es ein ganz normaler Tag gewesen. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass sich das ändern würde. Statt die Bahn zu nehmen, hatte ich mich für einen kleinen Spaziergang entschieden, aber das kam häufiger vor. Sogar wenn es wie heute leicht nieselte. Ich schlug den Kragen meines dunkelblauen Trenchcoats hoch, überlegte kurz, ob ich den Regenschirm aus meiner Handtasche kramen sollte, entschied mich dann aber dagegen. Der Straßenverkehr hupte sich langsam aber hartnäckig dem Feierabend entgegen. Ich bog, und das war vielleicht die einzige Abweichung an diesem eigentlich so normalen Tag, spontan in eine der Seitenstraßen ein, in der sich Ladengeschäfte und Hauseingänge abwechselten. Antiquariate, Galerien und kleine Boutiquen buhlten Tür an Tür um die Gunst der Eiligen, Zauderer und Window-Shopper. Unterbrochen durch den einen oder anderen Hauseingang, die ebenerdigen Fenster, die Einblicke auf den gedeckten Tisch oder die Sofaecke gewährten.
Es war schon dunkel, und alle paar Meter schimmerte der anthrazitfarbene, fast schwarze Asphalt im Licht der Straßenlaternen und gab gleichmäßig das Echo meiner Absätze wieder. Ich blieb vor dem Schaufenster eines Geschäfts stehen, in dessen Auslage sich Kerzen, Postkarten, Tassen und Stoffe zu einem dreidimensionalen Wimmelbild zusammengefügt hatten. Immer wenn ich glaubte, alle roséfarbenen Espressotassen, roten Kerzen oder bunten Topfhandschuhe erfasst zu haben, sprang noch ein pinkfarbenes Schminktäschchen oder eine altmodische Postkarte in mein Blickfeld. Ich riss mich los, ging weiter zum Antiquariat, dessen Schaufenster von oben bis unten mit alten Ausgaben alter Bücher bestückt war. Als sich die Ladentür öffnete und ein älterer Herr mit zufriedenem Gesichtsausdruck das Geschäft verließ, bildete ich mir ein, den typischen Papiergeruch der eng bedruckten Seiten einzuatmen.
Aus dem Augenwinkel sah ich das rot beleuchtete Schild der Galerie nebenan und nahm wahr, dass in allen drei Schaufenstern jeweils eine großformatige Schwarz-Weiß-Fotografie hing. Ich bemerkte, wie vor dem Eingang der Galerie einer älteren Dame eine Münze aus der Hand fiel und nun die Straße entlangkullerte. Ich ging auf sie zu, bückte mich nach dem Geldstück und drückte es ihr lächelnd in die Hand. Als ich mich zu einem der Galeriefenster umdrehte, sehe ich mich. Ganz geradeaus blicke ich mir selbst in die Augen. Noch dazu ein Doppelbild. Ich spiegele mich in der Scheibe und in meinem Selbst vor zwanzig Jahren.
Ich halte es für einen Witz, einen ziemlich guten zugegeben, dann für eine Sinnestäuschung. Und ich frage mich, warum diese Schwarz-Weiß-Fotografie, die ein Freund im Sommer 1993 von mir gemacht hat, nun in dieser Berliner Galerie hängt. Ich gucke nach links und nach rechts, prüfe, ob sich nicht noch jemand mit mir in diesem Donnerstagabend-Sketch befindet, doch ich bin allein mit mir. Ich trete ein Stück näher an die Scheibe und gleichzeitig zwanzig Jahre zurück.
Markus war der Freund meiner Freundin Karin. Wir hatten gerade Abitur gemacht, und es war der Sommer, bevor uns Studium, Ausbildung, Wehr- oder Zivildienst oder gleich die Weltreise in alle Winde verstreuen würden oder zumindest bis in die nächst größere Stadt. Viele hatten ihre fertigen Lebenspläne in der Schublade, die sie ehrgeizig durchziehen oder mehrmals über den Haufen werfen würden. Andere ließen ihre Pläne bewusst oder unbewusst vom Leben durchkreuzen.
Markus jedenfalls nutzte den Sommer, um Fotos zu machen. Die Kamera wurde sein zuverlässiger Begleiter. So oft wie er damals auf dem Marktplatz unserer Kleinstadt stand oder vor der Kirche, immer auf der Suche nach einem Motiv, das er festhalten konnte, begann er mit der Szenerie zu verschmelzen. Er wurde Teil des Stadtbilds wie die Würstchenbude an der Ecke. Dann begeisterte er sich für Porträts. "Ich möchte Fotos von dir machen", sagte er eines Tages zu mir, als wir alle, Karin, er und ich und noch einige andere Freunde, in der Eisdiele saßen. Wenn Karin das merkwürdig fand, ließ sie es sich nicht anmerken, und ich fühlte mich, ehrlich gesagt, geschmeichelt. Ein paar Tage später trafen wir uns im Park. Ich hatte sogar ein paar Klamotten zum Wechseln mit, ein schlichtes weißes T-Shirt, einen cremefarbenen fein gestrickten Pullover, ein rotes Ringelshirt. Es war ein Riesenspaß, und die Erinnerung daran lässt mich sofort den Nieselregen vergessen. Ich posierte, wir alberten herum, er fotografierte.
Oft waren es Schnappschüsse, "Zwischendurch-Fotos". In einem dieser Momente war dieses Bild entstanden, das nun von mir hängt, in 60 x 80 cm die gerahmte Erinnerung eines ganzen Sommers, zumindest einiger Augenblicke. Im Hintergrund des Fotos sieht man Bäume, unscharf, verschwommen, mein Blick richtet sich direkt an den Betrachter. Ich trage den cremeweißen Pullover, er hat einen V-Ausschnitt und war mir eigentlich ein wenig zu groß, und eigentlich war er auch zu teuer. Die feinen Maschen sind gut zu erkennen, genauso wie die schmale silberne Halskette mit dem kleinen Medaillon, die mir eine Freundin aus dem Urlaub mitgebracht hatte.
Die überschulterlangen dunkelbraunen Haare gehen mittlerweile nur noch bis zu den Ohrläppchen, das eine oder andere silberfarbene Haar hat sich darunter gemischt. Ich hatte Markus, Karin und auch viele andere aus den Augen verloren. Die ersten Jahre trafen wir uns in den Weihnachtsferien, die wir alle bei unseren Eltern verbrachten. Irgendwann trennten sich Markus und Karin. Markus hatte nach dem Zivildienst ein Studium begonnen, ich erinnerte mich nicht mehr an das Fach, aber es war auch nicht so wichtig, denn nach vier Semestern brach er es ab. "Und was wirst du jetzt machen?" fragte ich ihn, als wir am zweiten Weihnachtsfeiertag 1997 bei einem Cappuccino zusammensaßen. Er zuckte mit den Schultern und deutete als Antwort auf seine Kamera.
Nun, irgendwann in den letzten Jahren musste er auch hier gewesen sein. Vielleicht hatte er Geld gebraucht und hatte das Bild deswegen verkauft, vielleicht schweren Herzens, vielleicht leichten Herzens. Die Galerie war noch geöffnet, ich musste nur hineingehen und fragen. Neugierig suchte ich nach einem Preis, fand aber keinen. Ich trat einen Schritt zurück und fühlte mich wie im Zoo. Ich sah mich an und sah zurück, war gleichzeitig Affe und Besucher. Die Erinnerung erinnerte mich an das Jetzt. Daran, dass ich im Supermarkt noch Tomaten und Hackfleisch kaufen wollte, um nachher mit Max Spaghetti Bolognese zu kochen. So, wie wir das immer an unserem Hochzeitstag machten, weil wir uns vor acht Jahren in einem italienischen Restaurant kennen gelernt hatten. Parmesan brauchst du auch noch, fiel mir ein. Und einen guten Rotwein. Im Weinladen an der nächsten Ecke würde ich sicherlich einen Chianti finden.
Nichts erschien mir plötzlich so verlockend, wie Max beim Kochen zuzusehen und bei einem randvollen Teller Spaghetti Bolognese (er machte immer viel zu viel Soße) unseren Abend zu feiern. Ich drehe mich langsam um, fast hätte ich der jungen Frau noch zum Abschied gewunken, beschränke mich aber auf einem freundlichen Blick. Ich hoffe, du hast meinen zufriedenen Gesichtsausdruck zur Kenntnis genommen, zwinkere ich ihr zu. Dann gehe ich weiter.
Platz 5: Der Wolf
von Nadine Bonnard
"Hey du! Du da!" Erschrocken blieb ich stehen. Hatte der Wolf gerade mit mir gesprochen? "Ja, genau dich meine ich!" Ich wirbelte herum. Hellgelbe Augen fixierten mich aus einem pelzigen Gesicht heraus. Der Wolf hatte sich auf die Hinterläufe gestellt und sich mit den Vorderpfoten am Gitter seines Freigeheges abgestützt. So überragte er mich beinahe um drei Köpfe und ich musste zugeben, dass mir angesichts des riesigen Raubtieres und trotz des Gitters, das uns trennte, ein angstvoller Schauer über den Rücken lief. Die Tatsache, dass das majestätische Tier nun damit begann, mich mit seiner pelzigen Pfote zu sich zu winken, machte die Sache auch nicht unbedingt besser. Mit wackeligen Knien trat ich ans Gehege und blickte unsicher zu meinem zotteligen Gegenüber auf.
"Ähm… was gibt’s denn?"
"Wohin soll’s denn gehen?"
Das geht dich überhaupt nichts an!, war die Antwort, die mir auf der Zunge lag. Da ich jedoch trotz der absurden Situation Zweifel daran hegte, ob es eine gute Idee war, Meister Isegrim himself anzublaffen, beließ ich es bei einem schlichten: "Ähm… ich möchte jemanden besuchen." "Lass mich raten: Deine Großmutter, stimmt‘s?" Woher zur Hölle wusste der Kerl das?
"Und wenn es so wäre?" Ich reckte herausfordernd das Kinn. So leicht würde ich es ihm nicht machen. Auch wenn das hier die mit Abstand abgefahrenste Begegnung meines Lebens war – er war trotzdem nur ein Wolf. Ein Wolf in einem verdammten Zoo. Er mochte vielleicht kleine Kinder erschrecken können. Ich jedoch war eine erwachsene Frau. Eine Frau, die ihre Großmutter, die hier im Zoo als Tierärztin arbeitete, besuchen wollte. Nicht mehr und nicht weniger. Großmutter hatte einige Tage zuvor über leichte Hals- und Gliederschmerzen geklagt und seither nichts mehr von sich hören lassen. Als vorbildliche Enkeltochter sah ich es als meine Pflicht an, sie zu besuchen und nach dem Rechten zu sehen.
"Willst ihr Kuchen und Wein bringen, stimmt’s?" Der Wolf musterte mich mit einem wissenden Blick. "Dinkelplätzchen und Tee", sagte ich triumphierend. Bei Großmutters Diabetes konnte jedes noch so kleine Stück Kuchen tödlich enden und was den Wein betraf, so war ich mir sicher das Alkohol am Arbeitsplatz auch hier im Zoo nicht gern gesehen war.
"Wohl doch nicht allwissend, was?" Ich lächelte mein Gegenüber nachsichtig an. Ich wollte mich abwenden und meinen Weg fortsetzen, doch die raue Stimme des Wolfes hielt mich zurück. "Nicht so schnell, Rotkäppchen." Abermals blieb ich wie angewurzelt stehen.
"Was soll das heißen Rotkäppchen? Ich bin nicht Rotkäppchen!" "Natürlich bist du Rotkäppchen." "Und du bist der böse Wolf oder was?" "Ganz recht." Entrüstet stemmte ich die Hände in die Hüften und funkelte den Wolf wütend an. "Sehe ich vielleicht aus wie Rotkäppchen?" "Oh ja, durchaus." "Was macht dich da so sicher?" "Hmm, mal überlegen… vielleicht das Ding auf deinem Kopf?" Ertappt zuckte meine Hand nach oben. Ich vermied es jedoch gerade noch rechtzeitig, mir die rote Wollmütze vom Kopf zu reißen. Das hatte dieser eingebildete Kerl nur als Bestätigung aufgefasst. Scheinbar war den wissenden Augen des Wolfes selbst diese kleine Bewegung nicht entgangen.
"Du bist Rotkäppchen!", brüllte er und schlug sich triumphierend mit der Tatze auf die Brust. "Rotkäppchen, Rotkäppchen, Rotkäppchen!"
Allmählich wurde es mir zu bunt. Das Mistvieh hatte wohl zu lange in der Sonne gelegen. Höchste Zeit, diesem Irrsinn ein Ende zu bereiten. Und so zog ich meinen letzten Trumpf aus dem Hut. "Hast du irgendwelche Beweise dafür, dass ich Rotkäppchen bin?" "Klar hab ich die." "Und die wären?" Der Wolf schwellte stolz die Brust. "Ich hab deine Großmutter gefressen." Ich starrte ihn an. "Du machst Witze." "Hab sie mit einem Happs verschlungen." Der Wolf tätschelte sich mit einer provozierenden Geste den Bauch und stieß einen herzhaften Rülpser aus. Mir wurde kalt und heiß zugleich und der Boden schien unter meinen Füßen zu kippen. "Das ist nicht wahr." Meine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. "Du hast sie nicht gefressen." "Hat einen kurzen Moment nicht aufgepasst und schwups – weg war die alte Dame." Der Wolf kicherte boshaft. "Wie im Märchen. Genügt dir das als Beweis?"
Zorn wallte in mir auf. "Du verdammtes Mistvieh." Mit einem Satz sprang ich vor und rüttelte am Gitter. "Ich werde es dir heimzahlen." "Komm nur herein." Die pelzige Tatze des Wolfes wies einladend zum Eingang des Freigeheges. "Großmütterchen hat den Schlüssel stecken lassen." Längst hatte mein Verstand ausgesetzt. Alles was ich wollte war Rache. Ich stieß die Tür zum Gehege auf, stürmte ins Innere und trat mit geballten Fäusten dem Wolf entgegen. Meister Isegrim lächelte und in seinen Augen blitzte es. Dann wandte er sich langsam seinen Artgenossen zu, die sich bereits mit hungrigen Blicken hinter ihm versammelt hatten. "Alles klar, Leute. Ich hab sie soweit. Zeit zum Fressen!"
Das ließen sie sich nicht zweimal sagen.
Auszug aus der Berliner Zeitung vom 13.12.2014:
Frau dringt in Wolfsgehege ein
Schrecksekunde im Berliner Zoo: Nach Angaben von Zoodirektor Heribert Hansen drang am gestrigen Freitagmittag eine junge Frau aus bislang ungeklärten Gründen in das Freigehege der Wölfe ein. Wie durch ein Wunder überstand sie diese waghalsige Aktion nahezu unverletzt. Laut Zeugenaussagen fiel das komplette Rudel der weißen kanadischen Wölfe sofort über einen Korb mit Lebensmitteln her, den die 21-Jährige offenbar bei sich trug.
Über die Beweggründe der Frau ist bislang nichts bekannt. Übereinstimmenden Berichten von Zoobesuchern zufolge machte sie allerdings einen äußerst verwirrten Eindruck. So soll sie bei ihrer Befreiung durch sofort alarmierte Angestellte des Zoos lauthals geschrien haben, sie sei Rotkäppchen und wolle ihrer Großmutter Dinkelplätzchen und Tee bringen. Die 21-Jährige wurde von Rettungskräften in eine Berliner Klinik gebracht, wo sie bis auf weiteres psychologisch betreut wird.
Es ist bereits der zweite Zwischenfall im Berliner Zoo binnen weniger Tage. Erst vergangene Woche sorgte eine scheinbar ebenfalls geistig verwirrte Frau mit einem waghalsigen Sprung in das Bärengehege für Schlagzeilen. Die 27-Jährige, die sich selbst Schneeweißchen nannte, gab an, sie habe ihre Schwester Rosenrot vor den Bären retten wollen.
Unterdessen gibt es noch immer kein Lebenszeichen von der 61-Jährigen Inge K., die im Berliner Zoo als Tierärztin arbeitet (wir berichteten). Frau K. war am Abend des 10.12.2014 von ihrem täglichen Kontrollgang durch den Zoo nicht zurückgekehrt. Zeugen hatten sie zuletzt in der Nähe des Wolfsgeheges gesichtet. Die Polizei schließt ein Verbrechen mittlerweile nicht aus und bittet die Bevölkerung weiter um Mithilfe.
Schreibwettbewerb Begegnung Platz 6 und 7
Platz 6: Die andere Hälfte
von Juliane Martius
Sie waren das erfolgreichste Autorenpaar des Jahres: Charlotte "Charlie" Danzinger und Henry Morton. Mit ihrem Roman "Die andere Hälfte", einer turbulenten Geschichte über eine Patchwork-Familie, hatten sie sich sofort in die Herzen ihrer Leser geschrieben.
Ein ungewöhnliches Paar. Charlie, mit ihrem rotblonden Bubikopf und den sprühenden grünen Augen, und Henry, die blonden Haare sorgfältig gegelt, im marineblauen Dreiteiler – sie waren der Liebling der Presse zu beiden Seiten des Ärmelkanals, auch wenn sich Deutsche und Briten nicht einigen konnten, in welchem Land sie nun beliebter waren. Am brennendsten interessierte alle die Frage: Waren sie ein Liebespaar oder nur gute Freunde? Das übergingen die beiden, blieben höflich und geduldig, egal, aus welchem Land ihr Gesprächspartner gerade kam.
Die offizielle Version lautete, dass sie seit langer Zeit enge Freunde waren. Charlie war ein Jahr zuvor von Deutschland nach Cornwall gezogen, um mit Henry an einem Roman zu arbeiten. Er selbst hatte sie um ihre Hilfe gebeten, und sie hatte keine Sekunde gezögert. Fotos zeigten Charlie jedoch immer wieder in inniger Umarmung mit einem Mann, der angeblich ein früherer Kollege von ihr war und der gerade seinen Umzug nach England plante. Henry hingegen wurde ausschließlich allein oder in Charlies Gesellschaft gesichtet. Eine Ménage-à-trois?
Die beiden schwiegen sich aus und amüsierten sich über das Rätselraten der Presse. Die Wahrheit kannten nur sie.
Das erste Mal waren sie sich ein Jahr zuvor in der Hotelbar eines Leipziger Vier-Sterne-Hotels begegnet. Henry war von einer Lesung gekommen und wollte vor dem Schlafengehen noch einen Absacker trinken, als ihm an einem Tisch eine junge Frau auffiel, die gedankenverloren in der Gegend herumschaute und sich dann Notizen machte. Sie schien so gar nicht an diesen Ort zu gehören. Fasziniert hatte er sich an die Bar gesetzt und sie eine Weile durch den Spiegel an der Wand beobachtet. Währenddessen beschlich ihn das Gefühl, die Frau zu kennen; er wusste nur nicht woher. Von Natur aus eher schüchtern, nahm er zuerst einige Schluck Bier, dann seinen Mut zusammen und ging an ihren Tisch.
"Sie sind Jans Freundin, stimmt's?", sprach er sie an. Es überraschte ihn selbst, dass ihm die Frage und der Name seines Verlegers so flüssig über die Lippen kamen. Sie sah ihn nur irritiert an. "Jan? Jan Kaufmann?", versuchte er ihr auf die Sprünge zu helfen und fühlte sich dabei wie ein Vollidiot.
Doch die Mühe wurde belohnt. Mit einem Lächeln wie tausend Sonnen. "Woher kennen Sie Janosch?", fragte sie ihn verblüfft und bot ihm einen Platz an. Als er es ihr erklärte, formte ihr Mund ein kleines "O" und da wusste er, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Sie war Jans Kollegin. Die Frau, in die er seit drei Jahren verliebt war, und die ihn nur als guten Freund haben wollte. Er hatte ihm einmal ein Foto von ihr gezeigt, weil er seine Meinung hören wollte. Natürlich wusste sie auch, wer Henry war. Der Erfolgsautor, der sich allein auf Lesereise begeben hatte, um etwas über seinen Vater herauszufinden.
Der Knoten war geplatzt. Eh sie sich versahen, befanden sie sich in einem Gespräch über England, Literatur und ihre Großmütter väterlicherseits, die beide Charlotte hießen, wie Charlie selbst, und aus Liverpool kamen. Das war kein Zufall mehr, das war Schicksal! Die Freude verleitete Henry dazu, Charlie spontan zu fragen, ob sie ihn für den Rest der Reise begleiten wolle. Sie sagte sofort zu.
In den kommenden zwei Wochen fuhren sie gemeinsam durch Deutschland, wo er in Buchläden oder Clubhäusern aus seinem neuesten Buch vorlas, Autogramme gab und sich mit Fans fotografieren ließ.
Zwischen Henry und Charlie hatte sich schnell eine Vertrautheit entwickelt, die sie so noch nie erlebt hatte. Sie tat sich ohnehin schwer mit Fremden. Nur bei ihm hatte sie sofort ein gutes Gefühl gehabt. Er war für sie der Bruder, den sie nie gehabt hatte, und er erinnerte sie an ihren Vater, den sie sehr geliebt hatte. Henrys innigste Beziehung war bisher die zu seiner Mutter gewesen. Wenn er an seinen Vater dachte, verspürte er nur Hass. Er hatte seine Mutter verlassen, als er neun Jahre alt war. Trotzdem interessierte es ihn was aus ihm geworden war. Bisher hatte er nur herausgefunden, dass er nach Deutschland gegangen war, wo er als Englischlehrer gearbeitet hatte. Es gab keine Adresse, nichts. Die Lesereise hatte ihn in zweifacher Hinsicht gefreut: Er konnte sein Publikum im Ausland treffen und nach seinem Vater forschen.
Er hatte ihr eines Abends seine Lebensgeschichte erzählt, und sie hatte ihm sofort ihre Hilfe angeboten. Im Zeitalter des Internets konnte man doch jeden finden! Sie hatte ihn fest umarmt, ihm Mut gemacht und dann auf den Mund geküsst, einfach so. Er hatte den Kuss heftig erwidert. Und kurz darauf waren sie in sein Hotelzimmer gegangen. Er wollte mit ihr schlafen, flüsterte er ihr ins Ohr. Sie war zu allem bereit. Doch im entscheidenden Augenblick machte er einen Rückzieher. Es ging nicht. Sie war ihm nicht böse, sondern kuschelte sich einfach an ihn und schlief ein.
Die Sache mit der zweiten Hälfte erwähnte Henry erst nachdem sie eine Woche später tatsächlich das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Es war verrückt. Mit ihr fühlte er sich frei und unbeschwert, sie war die andere Hälfte, die ihn vollkommen machte, gestand er ihr. Obwohl Charlie ein Gesicht zog, als würde sie auf zwei Zitronen kauen, gab sie zu, dass sie ebenso empfand. Sie hatte es immer für ein Märchen gehalten, und nun erging es ihr genauso. Plötzlich war die Rede von Zusammenziehen und gemeinsam ein Buch zu schreiben.
Die Suche nach Henrys Vater geriet in Vergessenheit. Bis Charlie eines Abends von ihren Sommerferien in Irland erzählte. Sie waren jedes Jahr nach Kerry gefahren, wo ihr Vater ein Haus gekauft hatte. Es stellte sich heraus, dass auch Henrys Vater ein Haus im selben Ort besessen hatte. Mit einem Satz war Charlie aus dem Bett gesprungen, hatte aus ihrer Geldbörse ein Foto gezogen und es ihm gezeigt. Henry hatte kaum einen Blick darauf geworfen, als sein Gesicht einen zerknirschten Ausdruck annahm. Er musterte sie aus zusammen gekniffenen Augen, bevor er aus dem Bett stieg und seinerseits ein Foto aus der Tasche zog.
Charlie nahm es neugierig in die Hand und erstarrte. Das Bild zeigte das gleiche Häuschen, die gleiche Landschaft, und den gleichen Vater.
"Er hat mir nie von dir erzählt", stammelte sie schließlich und brach in Tränen aus. Henry sah sie nur ausdruckslos an, als wäre sie eine Fremde. Sie streckte Halt suchend die Hand nach ihm aus, doch er ignorierte sie. Stattdessen stand er auf, leerte die Minibar und ließ die Fläschchen auf die Bettdecke fallen.
"Auf Daddy!", sagte er, öffnete eine Flasche und trank sie in einem Zug aus. Schniefend blickte Charlie auf, wischte sich die Augen und öffnete ebenfalls ein Fläschchen. "Auf Daddy!"
Platz 7: Grenz-Erfahrung
von Susanne Henkel
Klitzekleine Schweißperlen bahnen sich katapultartig ihren Weg durch meine Poren und meine Stimme versagt. Ich fühle mich wie gelähmt. Meine Umwelt, den Moderator, beides nehme ich noch wahr, aber es ist mir unmöglich zu antworten. Ich stecke fest in einem Gefängnis aus plötzlichen Erinnerungen, Angst, Ohnmacht, Verzweiflung und unbändiger Wut. Möchte reagieren, möchte mir meine Verwirrung auf keinen Fall anmerken lassen, aber mein Körper gehorcht mir nicht mal mehr so weit, dass ich ein Wort formen könnte.
Die kleinen, kalten Schweißperlen, die in dem Moment, indem sie aus der Haut austreten, ein Kitzeln verursachen und das verständnislose Gesicht des Moderators, der seine Frage wiederholt, holen mich zurück. Schlagartig wird mir klar, dass ich eine Entscheidung treffen muss! Entweder, ich gebe mich der Ohnmacht hin, die seine Frage in mir auszulösen beginnt, und erlebe dann vermutlich die wildesten öffentlichen Spekulationen über meinen Nervenzusammenbruch live im Studio, oder ich werfe ihm jetzt irgendetwas vor die Füße.
"Herr Franz, bitte entschuldigen Sie, Ihre Frage hat mich gerade etwas irritiert. Wem meinen Sie, sollte man ver…"
In meinem Kopf klingt es so, als wäre meine Stimme plötzlich blechern, würde krächzen, wie eine rostige Fahrradkette. Der Schall schnellt zwischen meinen Ohren hin und her, und wieder drohe ich den Faden zu verlieren.
„…vergeben, Frau Jahnke. Den Schülern aus Ihrem Buch, die ihre pubertären Giftpfeile ja wohl eher aus Unwissenheit und jugendlicher Überheblichkeit auf die unbeholfene Referendarin abgeschossen haben, als aus echter Niedertracht und Gemeinheit. Und schließlich könnten wir heute ja nicht Ihr wundervoll geschriebenes, unterhaltsames Jugendbuch vorstellen, wenn Sie sich nicht diese Lausbubenstreiche ausgedacht hätten!“
Hätte ich mich selbst sehen können in diesem Moment, ich wäre vermutlich vor meinem konsternierten Blick zurückgewichen.
Mein Buch? Lausbubengeschichten? Unterhaltsam?
Als der Moderator während der Aufzeichnung meinen Satz vollendete, wurde mir bewusst, was passierte. Nicht seine journalistisch wenig anspruchsvollen Fragen hatten mich so weit fortgeführt, sondern es war dieses eine Wort. Er fragte mich nach Vergebung, und ich schoss innerhalb von Millisekunden durch Raum und Zeit, verließ erst die Figuren aus meinem Jugendbuch, zu denen ich befragt wurde und dann das Studio, das Jahrzehnt und schließlich das Land. Irgendwie war es mir gelungen, das schaurige Spiel im Studio mit einer Art mechanischem Humor in Würde zu Ende zu bringen.
Die Aufzeichnung liegt jetzt drei Stunden zurück, und ich laufe immer noch ziellos am Spreeufer entlang. Ich laufe vor der Entscheidung davon, nach Hause zu gehen, bin wieder in dieser für mich so schmerzlichen Erinnerung gefangen.
Ich habe Angst vor der Begegnung mit ihm, denn ich bin mir sicher, dass er zu Hause darauf wartet, mit mir zu reden. Es ist mein Zuhause, mein Refugium, das jetzt von ihm besetzt wird. Das fühlt sich schäbig an, weil es mein Ort dieser selbstgeschaffenen Sicherheit ist, den ich brauche, um die verletzten Teile in mir zusammenhalten zu können.
Ich selbst habe ihn in mein Leben gelassen, weil ich ihn liebe.
Wir sind noch nicht lange zusammen, aber vor ein paar Tagen habe ich ihm den Schlüssel zu meiner Wohnung gegeben.
Nicht, da waren wir uns beide einig, damit er einfach ein- und ausgehen konnte, sondern eigentlich nur, um ihn nicht immer abends, wenn er mit seinem Wagen zu mir kam, in die Tiefgarage lassen zu müssen.
Ich weiß, dass er mich liebt. Nicht nur, weil er es mir gesagt hat, sondern weil ich es in jedem Blick und in jeder Berührung spüre. Dennoch ist er seit heute zum Abbild meiner größten Angst, meinem ältesten Trauma, meiner Verzweiflung, ja sogar meiner eben im Studio unterdrückten Panikattacke geworden.
"Schatz, ich geh’ kurz unter die Dusche. Mein Kollege wollte eigentlich schon vor zehn Minuten anrufen, um mir die Flugnummer durchzugeben, damit ich den Kunden gleich abholen kann. Kannst du kurz rangehen und das notieren, falls er sich meldet?", rief er mir heute Morgen gut gelaunt zu.
"Klar, ich kann mich auch später fertig machen." Ich setzte mich mit meinem Kaffeebecher aufs Sofa und genoss die Situation, diesen Mann getroffen zu haben, in den ich mich schon nach wenigen Augenblicken verliebt hatte. Großartig, dass es ihm genauso ging.
Jetzt sprang er nackt durch meine Wohnung, wir hatten letzte Nacht fantastischen Sex, wie eigentlich jedes Mal, wenn wir uns sahen, und alles fühlte sich unbeschwert und richtig an. Ein Gefühl, das ich schon lange nicht mehr erlebt hatte.
Gedankenverloren bekam ich das Vibrieren seines Telefons gar nicht mit. Als ich es endlich bemerkte, sprang ich panisch auf, um seinen wichtigen Anruf nicht zu verpassen. "Ahh, shit!" Das tat mal wieder weh. Manchmal bei falschen und ruckartigen Bewegungen, oder bei komischem Wetter fühle ich noch dieses Stechen in der Wade. Da ist nichts, sagen die Ärzte. Alles wäre perfekt verheilt damals, aber ich kann es sehr wohl spüren. Schmerzen könne man sich nicht merken, versuchte eine Biologieprofessorin mir einmal glaubhaft zu machen, aber ich wusste es besser. Schmerzen kann man sich sehr wohl merken. Ich kann mich an den von damals noch haargenau erinnern, genauso wie an das warme Blut, das mir durch die Finger rann. Und ebendieses Ziehen und Stechen, das mich noch heute manchmal quält, ist meine lebenslange Erinnerung an Frank.
"Jahnke, Apparat Ludwig.", beeilte ich mich zu sagen, um den Kollegen vom Auflegen abzuhalten.
"Ludwig? Entschuldigen Sie", sagte eine etwas ältere Frauenstimme mit einem Dialekt, denn ich seit Jahren kaum noch ertragen konnte, "da habe ich mich verwählt!"
Sie legte auf, und ich legte Jens’ Handy wieder auf den Esstisch und kehrte zum Sofa zurück.
Es klingelte erneut, ich sprang wieder auf.
"Jahnke, immer noch Apparat Ludwig!", hörte ich mich sagen.
Ein paar Sekunden war nur der Atem der Anruferin zu hören.
"Ähm, ich wollte eigentlich meinen Sohn Ronny Koschinsky sprechen, hier spricht Hannelore Koschinsky. Das ist doch seine Nummer. Ich bin mir ganz sicher!"
Das Handy glitt mir aus den Händen, kurz blieb die Zeit für mich stehen. Wie in Zeitlupe fiel es auf die Fliesen und zerschellte. Das Display splitterte, und tausend Kristallteilchen verteilten sich auf dem Boden.
Fassungslos starrte ich auf die glitzernden Teilchen auf meinem Fußboden und den in der Mitte liegenden Rest von Jens’ Telefon.
Ich weiß nicht, wie lange ich bewegungslos und mit hängendem Kopf vor den Bruchstücken stand. Das Bild verschwamm irgendwann vor meinen Augen, dachte ich doch längst darüber nach wie weit Jens sich innerhalb von Sekunden von mir entfernte und sich unsere Beziehung in den gleichen Scherbenhaufen verwandelte wie sein Handy.
Erst sein sanftes Rütteln an meinen Schultern holte mich aus meinem Fall ins Bodenlose zurück. Ich starrte in sein Gesicht, verlor mich kurz in seinem Blick und spürte diese Wärme und Liebe, in der ich mich gerade gemütlich einrichten wollte, als mir schon die Übelkeit die Kehle hochkroch und diese Übersäuerung in meinem Mund mich dazu brachte, mich Sekunden später vor seine Füße zu erbrechen.
"Wer bist du wirklich?", würgte ich hervor. "Jens oder Ronny Koschinsky?", das waren die letzten Worte, bevor ich mich ins Bad flüchtete und ihn völlig perplex stehen ließ und aufforderte schnellstmöglich meine Wohnung zu verlassen.
Und jetzt drücke ich mich hier an der Spree herum, um nicht entscheiden zu müssen, was ich tun sollte, oder vielmehr wozu ich in der Lage sein könnte.
Ich bin mir sicher, dass Jens, oder muss ich ihn jetzt Ronny nennen, das ganze Ausmaß der Tragödie noch gar nicht bewusst ist. Vermutlich glaubt er, mein Schock und meine Wut kommen daher, dass er mich über seine Identität im Unklaren gelassen hat.
Aber das wahrhaft Dramatische ist, dass mir heute morgen schlagartig klar wurde, welche verborgenen Teile seines Selbst er krampfhaft zu verstecken versuchte. Er muss es mir nicht erzählen oder beichten, ich war ihnen bereits begegnet – vor Jahren, in einem anderen Leben, als ich noch meinen Mädchennamen trug. Ich fühle mich, als würde ich im Inneren dieses Konfliktes zerbrechen. Das Dilemma ist, ihn zu lieben, obwohl ich ihn seit heute Morgen nicht mehr lieben können sollte.
Ich spüre eine gewaltige Ambivalenz aus Hass, Angst, Wut, Enttäuschung und Unverständnis auf der einen, und Liebe auf der anderen Seite. Es ist für mich allerdings nicht vorstellbar, wie Liebe und Vergebung jemals würden die Oberhand gewinnen können, gegenüber dieser furchteinflößenden Trümmer, die von unserer Beziehung übriggeblieben sind. Ich schaue auf das Wasser. Es fließt, bedächtig, mächtig und grau. Es trägt alles davon. Ich frage mich, was ich ziehen und wegfließen lassen kann und ob ich das überhaupt will. Vielleicht würde ich mit dem Loslassen einen Teil meiner eigenen Identität aufgeben?
Meine Finger sind schmerzhaft steif, als ich versuche, mein Handy in der Tasche zu finden.
Vor Kälte oder einfach aufgrund der Tatsache, dass mein ganzer Körper sich versteift hat, ist mir nicht klar.
Ich wähle seine Nummer. „Hallo?“, höre ich ihn mit brüchiger Stimme sagen. – „Kannst du zum Reichstag kommen? Wir müssen reden.“ Ich lege den Hörer sofort auf.
Mir wird bewusst, dass ich mich ihm noch immer nicht wirklich stellen möchte und meine Wunde, die mir heute morgen schon einen Stich versetzt hatte, brennt wieder höllisch. Es fühlt sich so an, als wolle sie mich davon abhalten, ihm gegenüberzutreten. Es sticht und brennt und ich bilde mir wieder ein, das warme Blut hinabrinnen zu spüren. Es war neblig und düster an der Stelle, an der Frank und ich uns durchzuschlagen versuchten. Wir waren jung, voller Kraft und Energie und wir wollten leben, frei sein, unsere Potenziale ausschöpfen und schlicht das Recht haben selbst zu entscheiden wie und wo wir leben. Frank hatte bereits einige Zeit im Gefängnis gesessen, weil er immer wieder auffällig war. Er war ein Gegner des Systems, der es nie vorzog den Mund zu halten, um sich damit ein bisschen mehr Lebensqualität zu ergaunern. Er hatte seine Überzeugungen, für die er unangefochten einstand.
Ich war politisch nicht so aktiv, mehr eine Sympathisantin. Natürlich weil ich an die Sache glaubte, weil ich der unumstößlichen Ansicht war, dass Freiheit ein Menschenrecht ist, aber auch, das gebe ich offen zu, weil ich Frank einfach liebte, und seine Überzeugung so schnell zu meiner wurde.
Ich hatte Angst, als mir die Zweige ins Gesicht schlugen. Sie waren nass und hinterließen kalte Tropfen und Dreck auf meiner Haut. Die Angst entdeckt zu werden und die Angst aufzugeben oder Frank zu verlieren trieben mich immer weiter. Schemenhaft konnte ich ihn vor mir herhuschen sehen und versuchte, ihm wie ein Schatten an den Fersen zu bleiben. Ich durfte ihn nicht verlieren. Das Laufen in dem unwegsamen Gelände war schwierig für mich. Meine Augen gewöhnten sich nicht an die Dunkelheit und den Nebel. Von Richtung oder Entfernung hatte ich keine Ahnung mehr. Mir war nicht klar, ob wir noch unzählige Kilometer vor uns hatten oder nur noch ein paar Schritte von der Freiheit entfernt waren. Ich begann in einer Art Gleichschritt hinter ihm her zu marschieren. Dieser Rhythmus, in Kombination mit meiner fast schon zum Schreien manifestierten Panik, entfremdete mich völlig meiner Umgebung.
Ich bekam kaum noch etwas mit. Atmete immer flacher, wodurch mein verängstigter Körper wahrscheinlich einfach nicht mehr mit ausreichend Sauerstoff versorgt wurde und ich drohte nach vorne überzufallen, als mich der Lichtkegel traf. Er streifte erst Frank, dann heftete er sich an mich.
"Stehenbleiben, oder wir schießen!" Frank lief weiter. "STEHENBLEIBEN!" Ich konnte ihn nicht gehen lassen. Er war meine Liebe. Ich konnte nicht einfach die Hände heben, um ihm nur noch nachzusehen. Ich vergaß den Lichtkegel für einen Moment und versuchte, hinter ihm her zu kommen, als ich kurz nacheinander zwei Schüsse durch die Nacht peitschen hörte.
Beim ersten spürte ich nichts, ich sah nur Frank zusammensinken. Der zweite traf mich. In die Wade. Meine Beine versagten ihren Dienst. Ich konnte noch einen Schritt auf Frank zu machen, dann brach ich neben ihm zusammen. Ich spürte sein Blut an meiner Hand. Der Schuss hatte seine Brust getroffen.
Hunde und Soldaten stürmten auf uns zu. Ich sah Frank sterben und ich wünschte ihm, damit fertig zu sein, bevor die Horden bei uns waren. Ich hielt seine Hand und drückte meine Wange an seine. Er hatte Glück. Er starb rechtzeitig. Ich kam in Haft. Kurz vor der Wende wurde ich entlassen.
Später gab es Prozesse gegen die Mauerschützen der ehemaligen DDR. Ich war Nebenklägerin, ließ mich abseits des Gerichtssaals vernehmen und vor Gericht vertreten. In den Akten las ich, dass auf mich ein Ronny Koschinky geschossen haben musste. Grenzsoldat der Nationalen Volksarmee, ein junger Mann in meinem Alter. Er sagte aus, absichtlich auf mein Bein gezielt zu haben, da er dem Befehl nicht folgen wollte, sich aber gleichzeitig auch nicht entziehen konnte.
Sein Kamerad, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Frank zu stoppen, war genauer was die Ausführung des Befehls anging. Plötzlich stehe ich hinter dem Reichstag, am Spreeufer, wo ich gleich Ronny treffe, und werde der Gegenwart wieder gewahr.
Hier gibt es einige Stufen, die als Mahnmal an die Maueropfer andersfarbig markiert sind.
Ich bin zu früh und wartete auf meine zweite Begegnung mit Ronny Koschinsky, völlig ungewiss, was ich ihm sagen oder in Zukunft in ihm sehen soll. Er wird wissen, dass ich seine Geschichte kenne, wenn er mich bei den Stufen stehen sieht. Ob er dann auch erkennt, wer ich bin?