Der Philosoph Jesse Prinz erforscht die Grenzen der Hirnforschung – und kommt unserem Sein auf die Spur.
1. emotion: Herr Prinz, Sie sagen, heute werde versucht, menschliches Verhalten mit den Genen oder Hirnverschaltungen zu erklären. Inwiefern ist das zu kurz gedacht?
Jesse Prinz: Wir sind viel mehr als unsere Biologie. Sie müssen sich nur umschauen: Wir bringen Kunst, Ideen und Technologien hervor. Nichts davon ist durch unsere Gene bestimmt. Unser Anpassungsvermögen, dass wir Dinge erfinden und lernen können, zeichnet unsere Spezies aus. Das beeinflusst vermutlich unsere Wahrnehmung und sogar wie wir fühlen.
2. Welche Rolle spielt unsere Umgebung dabei?
Seit Jahrzehnten suchen Forscher nach Emotionen, die universell gelten, etwa Zorn, Glück oder Furcht. Aber die Kultur kann beeinflussen, was diese Gefühle hervorruft. Denken Sie nur daran, was Sie glücklich macht: Kunst? Sport? Oder wütend: Männer, die die Toilettenbrille oben lassen?
3. Sind Missverständnisse zwischen den Kulturen damit unvermeidlich?
Viele Missverständnisse entstehen, weil wir übersehen, wie Kultur unsere Werte prägt. Wenn wir uns mit Kultur und Psychologie auseinandersetzen, können wir lernen, Unterschiede zu verstehen und zu respektieren. Ein Schlüssel zu guten Beziehungen ist es, nicht wütend zu werden, wenn das Verhalten anderer mit dem was wir wollen in Konflikt steht.
Stattdessen sollten wir versuchen zu verstehen, weshalb jemand sich so verhält. Auch unsere eigenen Wünsche sollten wir versuchen nachzuvollziehen – und welche Rolle unsere Vergangenheit spielt. Die grundlegendsten Missverständnisse haben oft mit uns selbst zu tun.
4. Sie sagen, dass Menschen aus dem Westen die Bäume vor dem Wald sehen, während Leute aus Ostasien zuerst den Wald wahrnehmen. Inwiefern beeinflusst das die Lebensanschauung?
Aktuelle psychologische Forschungen deuten darauf hin, dass östlich geprägte Menschen Information ganzheitlicher verarbeiten. Sie nehmen die Beziehungen zwischen Sachverhalten wahr, während westlich geprägte Menschen die Welt eher als etwas aus mehreren autonomen zusammengesetzten Bestandteilen betrachten.
Das hat Einfluss auf alles, von der Wahrnehmung bis zum Wohlbefinden. Beim Betrachten eines Aquariums sehen Menschen aus dem Westen zuerst den größten Fisch, während diejenigen aus dem Osten eher den Hintergrund und die Interaktionen zwischen den Fischen wahrnehmen.
Und auf die Frage, was uns im Leben glücklich macht, sprechen westlich Geprägte von der Erfüllung persönlicher Ziele, während östlich Geprägte eher Leistungen für andere erwähnen.
Wie stark prägt uns unser Geschlecht?
5. Spielt unser Geschlecht auch eine Rolle?
Es ist ein weit verbreitetes Vorurteil, dass Frauen emotionaler als Männer sind. Das führt zu verschiedenen Mustern in der Sozialisation: Frauen werden dazu ermutigt, ihre Gefühle auszudrücken, während man von Männern eher ein stoisches Verhalten erwartet.
Es gibt Studien, laut denen Frauen ein größeres Vokabular für Emotionen haben und sogar körperlich stärker auf emotionale Situationen reagieren. Eine alarmierende Erkenntnis ist auch, dass Frauen öfter emotionale Störungen haben. In den modernen westlichen Gesellschaften zum Beispiel sind Frauen anfälliger für Depressionen und Angststörungen.
6. Können wir uns denn irgendwie von diesem „blinden Fleck“ lösen, der dadurch entsteht, dass wir in einer bestimmten Kultur leben?
Ich glaube gar nicht dass wir versuchen sollten, kulturelle Perspektiven außer Acht zu lassen. Der Reichtum des menschlichen Lebens rührt von unserer Fähigkeit, Gruppierungen zu bilden, die ihre jeweils eigenen Sichtweisen haben. Das sieht man an den Künsten: Jede Generation und jedes Land hat eigene visuelle Stile, eigene Modetrends, eigene Musik. Diese Vorlieben bilden unsere Identität.
Wir können unsere Horizonte erweitern, indem wir andere Sichtweisen kennenlernen. Aber wir sollten die besondere Verbindung, die wir mit der Musik unserer Jugend oder mit den Bräuchen unserer Heimat haben, nicht aufgeben. Wir sollten das annehmen und gleichzeitig anerkennen, dass jeder ein eigenes kulturelles Erbe hat, von dem jedes aufschlussreich und gleich viel wert ist.
7. Gibt es eine Chance besser miteinander zu kommunizieren, wenn man sich dieser Unterschiede bewusst ist?
Es gibt zahlreiche Ratgeber, wie man mit Mitgliedern anderer Gruppen zurechtkommt: Das Problem ist, dass diese Bücher oft mit Vorurteilen und Verallgemeinerungen arbeiten. Es gibt aber oft noch viel mehr Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedern einer Kultur.
Eine kulturelle Perspektive kann ein wertvoller Bestandteil einer erfolgreichen Kommunikation sein, aber wir müssen uns auch die Zeit nehmen unser Gegenüber kennenzulernen.
8. Apropos Identität: Färben Sie Ihre Haare, um ihre kulturelle Umgebung herauszufordern?
Als New Yorker ist es normal, abnormal zu sein. Also ist eine ungewöhnliche Haarfarbe hier wahrscheinlich eher ein Zeichen lokaler Konformität. Darüber hinaus ist es meine Art, unsere Kreativität und Wandelbarkeit zu feiern.
Haare sind etwas Natürliches, können aber auf unzählige Art gefärbt und gestylt werden. Das ist die menschliche Geschichte: Wir fangen mit dem an, was die Natur uns gegeben hat. Dann verändern wir es, um uns selbst auszudrücken.
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