Seit Fotografin Kathrin Stahl vor drei Jahren erfuhr, dass ihr Sohn in Wahrheit ein Mädchen ist, beschäftigt sie sich mit Menschen, die im falschen Körper geboren sind, vor allem in ihrem Foto-Blog mit dem Namen "Max ist Marie". Hier erzählt uns sie ihre Geschichte.
Kathrin Stahls Tochter wurde im Körper eines Jungen geboren. Marie, die früher Max hieß, ist transident: Sie fühlt sich als Frau, gehört aber biologisch dem anderen Geschlecht an. "Ich hatte schon immer eine Tochter", erzählt Kathrin Stahl, "wir wussten das nur nicht. Marie ist nicht mein Sohn, der eine Frau sein will, sondern sie ist meine Tochter, und das war sie schon immer. Sogar rückblickend sehe ich sie nicht mehr als kleinen Jungen, sondern als Mädchen, was sie ja damals noch nicht war."
Keine Akzeptanz ist das Schlimmste
Drei Jahre ist es nun her, dass Marie begann, nur noch geschminkt und in kurzen Röcken das Haus zu verlassen. "Damals nahmen wir ja noch an, sie sei ein junger Mann. Als sie nicht einmal mehr ohne Make-up die Post reinholte, habe ich zu ihr gesagt: 'Du hast doch einen Knall! Ich bringe völlig ungeschminkt deinen kleinen Bruder in die Schule.' Inzwischen weiß ich: Das ist das Schlimmste, was man tun kann – es nicht zu akzeptieren. Aber ich wusste einfach überhaupt nicht, was los war. Für uns sah es anfangs eher wie eine extreme Provokation aus. Dass sie sich ganz als Frau fühlt, war zu diesem Zeitpunkt noch gar kein Thema. Ich habe sogar einmal gefragt, ob sie eine Operation zur Frau anstrebe. Damals hat sie geantwortet: 'Auf keinen Fall.' Das ist vielleicht zwei Jahre her. Aber das änderte sich dann ziemlich schnell."
Ein Foto-Blog über Transidente
Andere Eltern greifen in einer solchen Situation zu Ratgebern. Kathrin Stahl näherte sich dem Thema auf ihre Weise: Sie begann das Foto-Blog "Max ist Marie", dem sie den Untertitel "Mein Sohn ist meine Tochter ist mein Kind" gab. "Vor etlichen Jahren hatte ich eine gut bezahlte Managementposition aufgegeben, um meinen Traum wahr zu machen: Ich wollte unbedingt als Fotografin arbeiten! Mittlerweile habe ich mich als Lifestyle- und Hochzeitsfotografin etabliert." Da lag es nahe, Maries Welt durch die Linse zu erforschen, Mensch für Mensch, Schicksal für Schicksal. "Für mich war immer klar, dass ich Marie zeigen muss, dass ich sie unterstütze. Mein Weg ist die Fotografie. Wenn ich also etwas tun kann, dann über ein Projekt, in dem ich transidente Menschen mit einfühlsamen Bildern und Texten porträtiere."
Wenn sie für ihr Blog mit transidenten Menschen spricht, hört Kathrin Stahl häufig, wie schwierig es ist, von den Krankenkassen eine Genehmigung für die Behandlung zur Angleichung zu bekommen. "Zwei Jahre müssen Transidente in psychologischer Betreuung sein, bevor sie überhaupt die Bescheinigung bekommen, dass sie transident sind", empört sie sich. "Dafür müssen sie sich oft schlimmen Schikanen unterziehen. Und die Krankenkassen möchten natürlich lieber die Bestätigung, dass keine Transidentität vorliegt. Doch wenn das Gutachten vorliegt, geht es inzwischen nicht mehr darum, dass Transidentität 'geheilt' werden soll. Sondern nur noch darum, was zahlt die Krankenkasse und was nicht.
Gesetze sind überflüssig
Es gibt Ärzte, die sich dafür einsetzen, dass Transidentität nicht mehr als Krankheit gilt, insbesondere nicht mehr als psychische Erkrankung. Denn das würde ja heißen: Mit dem Körper ist alles in Ordnung, und man könnte die Krankheit psychisch heilen. Aber genau das ist ja nicht der Fall. Andererseits: Würde das Gesetz entsprechend geändert, müssten die Krankenkassen nicht mehr zahlen." Dabei, betont sie, sind "die Betroffenen ganz sicher, eine Frau beziehungsweise ein Mann zu sein. Die zwei Jahre des psychologischen Nackt-Ausziehens sind deswegen eine Qual. Denn in dem Moment, wo sie es erkannt haben, gibt es keinen Weg zurück. Niemand tut sich das an, weil er denkt, er könnte eventuell eine Frau sein." Eigentlich, findet Kathrin Stahl, braucht es zu dem Thema überhaupt keine Gesetze. "Die Aufsichtspflicht des Staates ist hier völlig unangebracht. Die müssen nicht aufpassen, ob sich jemand möglicherweise versehentlich zur Frau oder zum Mann umoperieren lässt."
Das Foto-Blog "Max ist Marie"
Kathrin Stahl fotografiert vor allem Hochzeiten und Babys. Doch seit ihr Sohn sich auf den Weg gemacht hat, um zu Marie zu werden, zu der Frau also, als die er sich fühlt, beschäftigt sie das Thema Transidentität. Mit ihrem Foto-Blog begleitet sie Männer und Frauen, die sich wie ihre Tochter dem biologisch anderen Geschlecht zugehörig fühlen. Um Verständnis zu schaffen. Und Normalität zu zeigen. Auf dem dazugehörigen Facebook Profil "Tansgender Projekt 'Max ist Marie'" informiert die Fotografin über neue Blog-Beiträge und anstehende Veranstaltungen.
Zahlen in Deutschland
Wie viele Menschen in Deutschland transident sind, weiß niemand. Offizielle Zahlen gibt es nicht, und das Transgender-Spektrum von Menschen, die sich mit ihrem ursprünglichen Geschlecht und der damit verbundenen Rolle nur unzureichend oder überhaupt nicht identifizieren, ist breit: Es reicht von Gelegenheits-Crossdressern bis zu Menschen wie Marie, die ihr Geschlecht wechseln wollen. Patricia Metzer, Vorstand und Leiterin der Bundesgeschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (DGTI), vermutet, dass das Thema ihrer "persönlichen Erfahrung und Einschätzung" nach bundesweit etwa ein halbes bis ein Prozent der Bevölkerung betrifft – also zwischen 500 000 und 800 000 Menschen.
Transidentität wird im Mutterleib angelegt
Es ging nicht um Provokation
"Es gab nicht den einen Moment, in dem ich dachte: 'Ups, ich hab jetzt eine Tochter'", erinnert sich die Hamburger Fotografin. "Ich glaube, als sie mir gesagt hat: 'Doch, die OP kommt infrage', war das ein wichtiger Schritt, weil endlich klar war, in welche Richtung es geht: Es war keine Provokation, es war nicht vorübergehend... was viele Eltern ja hoffen. Für mich war von da an klar: 'Das begleitet unsere Familie.' Und natürlich wünsche ich mir, dass Marie glücklicher und unbeschwerter wäre, als sie es tatsächlich ist. Aber das ist auch das Einzige, womit ich hadere."
Auslöser unbekannt
Kathrin Stahl war mitten im Studium, als sie mit Marie schwanger wurde. Sie hatte eine anstrengende Zwischenprüfung, war gestresst und bekam Vorwehen. "Im fünften oder sechsten Monat wurden mir Wehenhemmer verschrieben", erinnert sie sich. "Manchmal frage ich mich, ob das zusammenhängt. Aber ich gräme mich nicht und glaube auch nicht, ich hätte etwas falsch gemacht. Und selbst wenn es so wäre: Ändern könnte ich es doch nicht. Transidentität wird im Mutterleib angelegt, aber man kennt den Auslöser noch nicht."
Kathrin Stahl ist eine Macherin: Mögliche Auslöser sind ihr weit weniger wichtig als mögliche Lösungen. Als sich abzuzeichnen begann, dass Marie sich nicht als Junge fühlt, fragte sie nicht: "Muss das sein – und wann geht es wieder weg?" Sondern sie stand liebevoll, wenn auch manchmal ratlos, Marie zur Seite. "Wenn wir essen gingen, als Marie noch nicht so weit war, wie sie heute ist, wurde sie manchmal von den Nebentischen angestarrt. Das war schrecklich!
Einige Male habe ich die Leute sogar angesprochen und gefragt, was sie denn eigentlich für ein Problem haben. Ich stelle mich in einer solchen Situation schützend vor mein Kind! Diese Blicke
waren mit ein Grund, dass ich gesagt habe: Ich muss was tun, ich will was bewegen.
Transidente sind ganz normale Menschen
Ich versuche, denjenigen, die sich dafür interessieren, zu zeigen, dass Transidente ganz normale Menschen sind. Sie haben ihre eigene Geschichte, so wie jeder von uns. Ich fotografiere die Menschen, wie sie vor mir stehen, wie sie mit mir reden. Ich zeige, was ich in den Menschen sehe und was sie ausmacht. Ich fotografiere auch gern Details, zum Beispiel die Handtasche, oder einen Ort, an dem sie gern sind. Um auf diese Weise deutlich zu machen: Diese Menschen haben eine Umgebung, genau wie jeder andere auch."
Bewusst hat sich Kathrin Stahl dafür entschieden, die Blog-Fotos in Schwarz-Weiß zu veröffentlichen. "Damit will ich auf unser Schwarz-Weiß-Denken hinweisen, wenn es um Andersartigkeit geht. Außerdem soll nichts ablenken. Es geht ja um den Menschen und um die Kleinigkeiten, die für denjenigen wichtig sind. Ich habe das Blog begonnen, um Marie zu zeigen: Ich interessiere mich für dich, ich möchte dich besser verstehen, und ich möchte mit dir gemeinsam etwas für transidente Menschen tun. Und das funktioniert auch. Zum Beispiel habe ich früher immer gedacht: So schlimm können die Hormone doch nicht sein, reiß dich doch mal zusammen. Und das habe ich ihr auch gesagt. Jetzt verstehe ich: Das hat mit Zusammenreißen nichts zu tun; das sind wirklich die Hormone, und man hat einfach keine Chance. Wenn die Depressionen kommen, dann kommen sie.
Mehr Verständis durch mehr Wissen
Ich habe jetzt viel mehr Verständnis für Marie, weil ich so viel mehr weiß. Und ich wünsche mir natürlich, dass diese Informationen auch anderen Eltern und Betroffenen helfen. Ich bin so dankbar für die Offenheit, mit der mir alle Menschen begegnen, die ich bisher porträtieren durfte! Ich komme an, wir kennen uns nicht, und trotzdem erzählen sie mir ihre ganze Lebensgeschichte. Das ist etwas ganz Großes. Und alle trauen dem Projekt wirklich etwas zu. Ich habe so viele positive Rückmeldungen bekommen, so viel Zuspruch."
Wie es weitergeht? Kathrin Stahl wird weiter Porträts von transidenten Menschen machen. Im Frühjahr wird es eine Ausstellung in Potsdam geben, ein Buchprojekt ist in Planung. Und für Marie? "Ich stelle mir vor, dass sie vielleicht irgendwann einmal heiratet und einfach glücklich ist. Konkreter sehe ich es allerdings nicht vor mir. Aber sie ist ja auch noch jung!"
Geschlecht: transident
Patricia Metzer, Vorstand und Leiterin der Bundesgeschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität: "Mit hoher Wahrscheinlichkeit entsteht Transidentität vorgeburtlich in einer pränatalen Prägung. Dafür spricht, dass sie sich als nicht heilbar erwiesen hat und Kinder sich schon so empfinden und ganz natürlich so leben. Wenn Menschen versuchen, gegen ihre Transidentität zu kämpfen, oder es einfach noch nicht verstehen, dann folgen in der Regel Depression, später psychosomatische Probleme und laut einer Studie der Uni Mainz in etwa der Hälfte der Fälle Suizid. Als betroffener Mensch beschreibe ich das wie einen 'Krieg im Innern', der körpereigenen Hormone gegen die eigene Identität Im Laufe der Lebensjahre nimmt die Intensivität dieses Konfliktes zu, im gleichen Maße verstärken sich Depression und die Psychosomatik.
Ohne medizinische Hilfe ist dieser innere Widerspruch irgendwann nicht mehr zu ertragen. Daher die hohe Suizidrate. Der Beginn der Hormonersatztherapie ist gleichzeitig das Ende dieser inneren Qual, das Leben wird wieder wundervoll lebenswert. Bei Kindern beginnt dieser innere Konflikt mit dem Einsetzen der Pubertät, was als große Katastrophe empfunden wird. Hier brauchen die jungen Menschen viel Unterstützung durch die eigene Familie und durch Fachleute. Durch die richtige Therapie kann bei transidenten Jugendlichen die Suizidrate signifikant gesenkt werden. Erkennbar sind transidente Menschen mehrheitlich nur während ihrer Zeit der Angleichung: Dann, wenn sie das bisherige Ufer verlassen, um durch das 'wilde Wasser hindurch' das andere zu erreichen."
Hier finden Sie weitere Portraits von transidenten Menschen, die Kathrin Stahl für Ihren Blog "Max ist Marie" getroffen hat.