Nichts inspiriert unsere Chefredakteurin so sehr wie andere Menschen. Jeden Monat erzählt sie hier von ihren Treffen. Diesmal sprach sie mit dem Humangenetiker Professor Markus Hengstschläger.
Seit ich Prof. Markus Hengstschläger beim Pathfinder-Event des "Handelsblatt" getroffen hatte, wollte ich mehr über seine Arbeit wissen. In Wien sprachen wir über die Durchschnittsfalle. Darüber hat der Humangenetiker ein ganzes Buch geschrieben.
Prof. Hengstschläger, wie haben Sie Ihr Talent für die Genetik gefunden?
Zum einen hatte ich Menschen, die mein naturwissenschaftliches Talent entdeckt haben, und mir rieten, etwas mit Biologie zu machen. Zum anderen konnte ich auch nicht wirklich etwas auffallendes anderes. Es war in meinem Fall also relativ einfach.
Warum ist es so bequem, sich im Durchschnitt einzurichten?
Zum einen ist der Durchschnitt bequem. Die Bequemlichkeit ist einer der Hauptgründe, die offensichtlich immer von Generation zu Generation weiter gegeben werden. Der Glaubenssatz ist: Du musst nicht ganz vorne und nicht ganz hinten sein, um erfolgreich zu sein. Viele Eltern sagen ihren Kindern, dass sie eben nicht aus der Reihe tanzen müssen bzw. sollen, sondern dass es ok vielleicht sogar besser ist, in der Menge zu bleiben. Zum anderen gibt es einen Druck zur Konformität. Das fängt schon im Kindergarten an. Ein Beispiel dazu: Ein kleines Kind steht im Kindergarten, ihm gegenüber zwei oder drei andere. Dieses Kind vertritt Position A, die gegenüber einigen sich aber auf Position B und lachen. In genau diesem Fall entscheidet es sich. Denn das Kind überlegt, ob es ihm wert ist, für seine Position A zu kämpfen oder ob es sich nicht besser in der Konformität eingliedert, weil das viel bequemer ist.
Und das geht dann im Job so weiter?
Ja. Ein Konzern sucht zum Beispiel eine junge Frau, die einen bestimmten Lebenslauf haben muss: Auslandsaufenthalte, Sprachen, Kleidung, Golf-Handicap etc. Das ist der Beginn des Durchschnitts und der Konformität. Denn irgendwann werden alle, die so einen Job wollen, in genau diesen Rahmen des Personalverantwortlichen hüpfen, anstatt ihn zu hinterfragen.
Agieren Männer da anders als Frauen? Gibt es genetische Unterschiede?
Für mich sitzt das Geschlecht eines Menschen nicht zwischen seinen Beinen, sondern zwischen seinen Ohren. Ich habe mit Menschen zu tun, die als Frau geboren wurden, aber als Mann weiterleben möchten. Und umgekehrt. Da gibt es manchmal genetische Anlagen, aber oftmals sind es offensichtlich freie Entscheidungen. Ich werde mit solchen Fällen ständig konfrontiert. Als Genetiker weiß ich auch, dass das Geschlecht angelegt ist und dass der Unterschied zwischen Ihnen und mir im Y Chromosom liegt, das Sie nicht haben. Dass es aber auch trotzdem viele Menschen gibt, die ein Y Chromosom haben, aber dennoch als Frau leben wollen und umgekehrt. Für mich ist daher das, was in der Gesellschaft als Unterschied zwischen den Geschlechtern bezeichnet wird, nicht das Wesentliche. Für mich spielt sich alles im Kopf ab. Wenn im Kopf keine Grenzen sind, dann sehe ich auch keinen Unterschied zwischen den Individualisierungsmöglichkeiten von Mann und Frauen. Individualisierung geht in allen Geschlechtern. Vielleicht wird der Druck in der Praxis unter bestimmten Lebensbedingungen für Frauen anders sein, als für Männer. Aber der ist für mich nicht so zentral.
Braucht es dann gar keine Frauenquoten?
Doch! Frauenquoten sind wichtig, um mit der Geschichte fertig zu werden. Denn das einzige Problem, das wir heute haben ist, dass wir in der oberen beruflichen Reihen noch zu wenige Frauen haben. Die Quote hilft uns, dass es sich schneller dahin entwickelt. Und am Ende geht es ohnedies 50:50 aus. Davon bin ich überzeugt.
In Ihrem Buch sagen Sie, um sein Talent auszuschöpfen, solle man den Mut haben, Schwächen zu vernachlässigen.
Ja, denn nur dann kann man seine ganze Energie dazu nutzen, seine Stärken noch besser auszubauen, statt sich damit zu verausgaben, seine Schwächen wenigstens auf ein Durchschnittsniveau zu heben. Aber es ist nicht so leicht. Sie werden sich als Mutter, unglaublich selbst überwinden müssen, es ihrem Kind zu erlauben, einen aktiven Verzicht in dem Bereich zu betreiben, in dem es nicht so talentiert ist, um Luft dafür zu schaffen, den Bereich auszubauen, in dem er talentiert ist. Es ist zudem auch schlecht, dass wir in Europa gerade kein gesellschaftliches System haben, das gewährleistet, dass sich Menschen ganz auf die Weiterentwicklung ihrer Stärken konzentrieren können.
Gibt es eigentlich eine Altersgrenze, um Talente umzusetzen?
Talent kann man in jedem Alter entdecken. Denken Sie an Carl Djerassi, den Erfinder der Pille. Er hat im höheren Alter über Nacht entschieden, dass er nicht mehr Chemiker, sondern Schriftsteller sein möchte. Dann hat er angefangen Romane und Theaterstücke zu schreiben, und war sehr erfolgreich dabei. Also wenn man das Gefühl hat, da gibt es etwas, dass mir mehr wert ist als meine aktuelle Tätigkeit, dann gibt es keinen falschen Zeitpunkt. Dann muss man nur mutig genug sein. Vor allem, wenn ich weiß, dass ich durchaus scheitern kann, es aber trotzdem tun muss, weil es meine Stärke ist, die ich ausleben muss. Und denken Sie daran: die wichtigsten Erfindungen wurden von Wissenschaftlern gemacht die 40 Jahre etwas ganz anderes erforscht haben. Auch in Kunst und Kultur gibt es ganz viele Beispiele, in den jemand noch sehr spät umgestiegen ist und große Erfolge gefeiert hat.
Kann denn jeder den Mut aufbringen, seinen Weg zu gehen?
Es gibt zwei Pole: Bequemlichkeit und Mut. Sie können jede Entscheidung abwägen, bis Sie der Mut verlassen hat. Aber potenziell ist jeder von uns mutig. Manchmal wurde er nur aus Bequemlichkeit noch nicht herausgefordert. Wenn Sie zum Beispiel in einer großen Bank einen Spitzenjob haben und spüren, dass Sie eigentlich einen anderen Lebensweg vor sich sehen, müssen Sie sich nur lange genug die Dinge, die Sie bereits erreicht haben (Geld, Position, Auto, etc.) vor Augen führen. Desto länger Sie dies tun, desto weniger werden Sie sich trauen, zu springen. In dem Moment in dem die Bequemlichkeit überhand nimmt, ist der Mut weg. Jeder von uns ist mutig. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie Lebensgeschichten Mut schreiben können (Notsituationen, Kriege). Mut, der bisher immer da war, aber aus Bequemlichkeit noch nicht herausgefordert worden ist.
Wieso verharren wir dann dennoch oft im Durchschnitt?
Unsere Gesellschaft wertet Talente, was dazu führt, dass Menschen zu den Talenten neigen, die besonders angesehen sind. Daher ist es auch für eine Frau, die ihren Weg gehen möchte, entscheidend, dass sie sich traut, sich von den gesellschaftlichen Vorgaben freizumachen. Die entscheidende Frage ist: "Wer bin ich?" Und: "Wo will ich hin?" Tatsächlich glaube ich, dass auch ganz viele junge Menschen genau wissen, wer sie sind, aber aufgrund des Drucks, der von der Gesellschaft ausgeht, nicht mehr dahinspringen, wohin sie eigentlich wollen. Das müssen wir ändern. Dabei geht es nicht darum, dass man anders sein muss. Wenn man aber anders ist, dann soll man den Mut haben, dabeizubleiben, auch wenn es nicht dem Mainstream entspricht. Denn es ist wichtig, dass ich mache, was ich will. Die größte Gefahr ist, dass wir der Mehrheit vorgeben wollen, dass es spitze wäre, dass wir alle ein bestimmtes Level erreichen, statt auf die eigenen Talente zu setzen. Ich zitiere hier gerne den Schriftsteller Peter Rosegger: "Jeder Mensch hat Talent, nur das Licht der Bildung (und von mir ergänzt: und der harten Arbeit) bringt es zum Vorschein". Erst wenn wir also soweit sind, dass alle Talente gleich geschätzt werden, dass der Musiker oder Handwerker genauso viel wert ist, wie der Kinderpfleger oder der Fußballspieler, haben wir die Motivation die wir brauchen, damit Menschen mutig genug sind, auszusprechen, wer sie wirklich sein wollen.
Stattdessen, wird z. B. der Fußballstar Lionel Messi immer als größtes Talent gefeiert. Aber: warum ist der ein größeres Talent, als z.B. meine Studenten, die einen super Job machen? Und warum soll Messi ein größeres Talent sein, als zum Beispiel jemand der sich entschlossen hat, einen anderen Menschen ein ganzes Leben lang zu pflegen. Ich glaube, dass jemand der das kann, ein viel größeres Talent hat, das viel mehr Härte zu sich selbst, Durchhaltevermögen, viel mehr Konsequenz und Konstanz fordert, als es beim Fußball nötig ist. Junge Menschen haben heute das Problem, dass sie oft denken, dass ihr persönliches Talent, in der Gesellschaft nicht gern gesehen wird. Daher wollen sie alle zu Castingshows und PopStars werden, denn das möchte heute jeder Jugendliche sein.
Wie finde ich nun meine individuellen Talente?
Was halten Sie von dem banalen Ansatz, sich 100 Beschäftigungen vor Augen zu führen und sich die Frage zu stellen "Was möchte ich gerne tun?". Das spannende ist, dass wahrscheinlich in 90% der Fälle Menschen herausfinden, dass sie Berufe machen, die sie vielleicht eigentlich nicht machen wollen. Wir haben eine Theorie in der Genetik, die etwas überzitiert ist, aber dennoch Kraft hat: Die Theorie "The selfish gene" entwickelt vom Biologen Richard Dawkins. Hier geht es um das egoistische Gen und den Zusammenhang zwischen Umwelt und seinen genetischen Anlagen. Das beste Mittel ein Talent zu entwickeln ist Lob. Denn das fördert beim Gelobten die Entwicklung eines Gefühls für sein Talent. Es ist daher eigentlich viel klüger jemanden in seinen Stärken zu motivieren, als in seinen Schwächen. Denn jeder Mensch hat Stärken, ob es seine soziale Ader, seine Empathie oder seine Musikalität ist. Jeder Mensch hat Talente, die man durch Lob ans Licht bringen kann. Es ist selten, dass jemand der in etwas wirklich gut ist und darin noch sehr gelobt wird, nicht dabei bleibt.
Sie sagen, dass Sie die Studenten am meisten begeistern, die Sie etwas fragen, was Sie selbst noch nicht wissen können. Nach welchen Kriterien wählen Sie eigentlich die Besten unter den Bewerbern aus?
Ich richte mich nicht nach den besten, gradlinigen Lebensläufen. Ich achte darauf, ob jemand schon mal gescheitert ist. Denn denjenigen, der noch nie gescheitert ist, der hat nicht notwendigerweise einen Vorteil, denn was ist, wenn er dann bei uns das erste Mal scheitert? Er hätte dann doch gar keine Erfahrung, was er dann tun müsste. Ich brauche stattdessen jemanden, der keine Angst hat, da er auch schon mal unten war. Denn umso höher der Innovationsgrad in einem Unternehmen sein soll, umso höher ist die Fehlerquote. Daher ist es wichtig, aus den Fehlern zu lernen und das Scheitern als einen wichtigen Schritt auf dem Weg nach vorne anzunehmen. Denn, wenn ich mein Talent umsetzen möchte, wird es einige Schritte geben, in den ich sicherlich stolpern werde und dann brauche ich ein Konzept, wie ich mit dem Scheitern umgehe. Und eben keine Eitelkeit, die mein Scheitern vertuschen möchte. Das Gegenteil ist richtig! So fordern wir zum Beispiel seit Jahren Journale, die die negativen Ergebnisse und falschen Strategien im Rahmen der Forschung veröffentlichen. Denn das bringt uns weiter, hilft uns, nicht den gleichen Fehlern aufzulaufen. Zudem: Individualisten sind Menschen, die nicht einfach gerade durchmarschieren, sondern es sind Menschen, die auf die Nase fallen, anecken, durchaus auch mal polarisieren.
Was sind die Talente, die wir für die Zukunft brauchen?
Das höchste Talent ist Kreativität. Jeder Mensch kommt mit einer gewissen Kreativität auf die Welt. Aber Kreativität muss perfektioniert und umgesetzt werden. Denn wenn wir jung sind, fängt alles sehr kreativ an. Oft kommt am Ende zu viel Gleichförmiges raus. Hingegen brauchen wir Innovationen! Die Welt wird nicht von rauchenden Schloten, sondern von rauchenden Köpfen gerettet werden! Denn man kann ein Produkt immer hundertmal größer, effizienter, stärker und noch billiger produzieren. Aber wenn´s keiner mehr braucht? Was dann? Man kann die billigsten Fabriken bauen, aber wenn sich das Problem mittlerweile verändert hat, dann nützt das nicht mehr. Vielmehr brauchen wir dann eine neue Idee. Und dafür dann wiederum Kreativität. Sie wird deshalb immer wichtiger, weil sich die Fragen ständig verändern werden.
Zum anderen werden wir als Mensch nicht mehr allein Probleme lösen. Daher wird auch die Vernetzung immer wichtiger, aber auch soziale Kompetenz und Empathie. Jedoch nicht nur erst heute, denn Teamfähigkeit war schon beim Neandertaler – etwa bei der Jagd - wichtig.
Vielleicht wird aber heute soziale Kompetenz so gehypt, da die Menschen oft zu dem Gedanken neigen, dass ihnen - wenn sie immer und zu allen nett sind - nie etwas böses widerfahren wird und sie so erfolgreich sein werden. Nett allein, reicht aber einfach für gar nichts. Das muss auch einmal gesagt werden. Denn in dieser Wohlfühl- und Nettigkeitsgesellschaft in der wir heute zum Teil in Europa leben, darfst Du keinen Fragen aufwerfen. Und wenn Du polarisierst ist das schlecht, denn das Ziel ist, dass Du eigentlich bei jedem beliebt bist. Aber dieses System rettet uns nicht.
Wichtig ist hingegen, dass wir ehrlich miteinander umgehen. Und uns offen zu unseren Stärken und Schwächen austauschen, damit wir uns im Team sinnvoll ergänzen können. Und dabei müssen wir uns auch gar nicht unbedingt und immer sympathisch sein. Manchmal kann es sinnvoll sein, ein gewisses Unwohlsein der Person gegenüber zu haben, denn das hilft, gesunden Respekt dem anderen gegenüber zu behalten und sich an klare Grenzen zu halten. Vor allem aber auch die Stärken des anderen zu achten und die einzelnen, individuellen Talente zu einem großen Ganzen zu fördern.
Der Österreicher ist Buchautor ("Die Durchschnittsfalle") und Professor für Medizinische Genetik an der Universität Wien. Internationale Anerkennung fand er u. a. durch seine Innovationen im Bereich der prä- und postnatalen genetischen Diagnostik. Hengstschläger ist mit einer deutschen Biologin verheiratet und Vater von zwei Kindern.
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