Leise Menschen werden oft überhört in einer Gesellschaft, die Extrovertierte gern mit besseren Posten, mehr Gehalt und Anerkennung belohnt. Dr. Sylvia Löhken, selbst introvertiert, plädiert im Interview für die Kraft, die in der Stille liegt.
Dr. Sylvia Löhken ist Expertin für den wichtigsten Unterschied in der Persönlichkeitstypologie: Intro- und Extroversion. Sie hält Seminare und leitet Coachings, schreibt Bücher und Fachartikel - und zählt sich selbst zu den "Intros", wie sie die leisen Menschen liebevoll nennt. Wieso gerade in der Ruhe die Kraft liegt, erklärt sie im Interview.
EMOTION: Was sind eigentlich die drei wichtigsten Merkmale, an denen man intro- und extrovertierte Menschen am häufigsten erkennt?
Dr. Sylvia Löhken:
1. Introvertierte Menschen gehen wörtlich "nach innen", investieren also mehr Energie für die mentale Verarbeitung von Informationen. Extrovertierte Menschen gehen wörtlich "nach außen", investieren also mehr Energie in den Austausch mit ihrer Umwelt.
Ganz wichtig: Wir sind alle Mischungen, haben also intro- UND extrovertierte Eigenschaften - und meistens neigen wir zu einer Seite. Am einfachsten ist es, sich einmal zu testen, um die Stärke der eigenen Ausprägung herauszufinden (leise-menschen.com).
2. "Intros" haben von Umweltreizen schnell genug (weil ja zwischen ihren Ohren schon so viel passiert), während für "Extros" ihr Umfeld gern reichlich Stimulation bieten darf - sie können Sinneseindrücke leichter verarbeiten und fühlen sich lebendig, wenn "etwas los ist".
3. Intros sind eher sicherheitsorientiert, während Extros anreiz- oder belohnungsorientiert sind.
Übrigens: Alle drei Unterschiede lassen sich neurobiologisch nachweisen!
Warum haben es introvertierte Menschen oft so schwer in unserer lauten Gesellschaft?
Die Unterschiede zwischen Intros und Extros laden zum Missverstehen ein: Wer sie nicht kennt, kommt leicht zu Fehlschlüssen. Das gilt aber in beide Richtungen: Der Extro hält den Intro, der ein wenig Zeit zum Nachdenken braucht (und dabei viel mehr Informationen als sie verarbeitet!), vielleicht für langweilig oder sogar für begriffsstutzig. Wir Intros halten dafür Extros, die in Meetings ohne nachzudenken mit ihren spontanen Ideen herausplatzen, für oberflächlich oder ebenfalls für ein wenig beschränkt.
Wir Menschen sind ohne Hintergrundwissen ziemlich intolerant: Wenn jemand "anders tickt", neigen wir dazu, ihn oder sie erst einmal negativ zu bewerten. Umso wichtiger ist das Wissen um den anderen "kleinen Unterschied".
Kann ich jemals extrovertiert werden, wenn ich eigentlich introvertiert bin?
Intro- und Extroversion bekommen wir als Anlage genetisch mit. Allerdings sind unsere Hirne noch nicht fertig entwickelt, wenn wir auf die Welt kommen. Unsere Familie und Freunde beeinflussen unsere Persönlichkeitsentwicklung noch einmal ähnlich stark - so stark, dass Psychologen von einer "zweiten Natur" sprechen.
Wir können uns also nicht ins jeweilige Gegenteil verwandeln - aber wir können tun, was auch immer wir gern tun wollen, und dabei als Intros wie als Extros erfolgreich sein. Immerhin gibt es introvertierte Politiker und extrovertierte Nobelpreisträger - also Spitzenleister, die in Domänen erfolgreich sind, die eigentlich eher dem anderen Persönlichkeitstyp entsprechen. Darin liegt unsere Freiheit!
Wie schaffe ich es, dass man mich trotz meiner ruhigen Art ernst nimmt und hört?
Intros haben viele Stärken auf ihrer Seite, die ihrer Stimme großes Gewicht geben können: Sie bilden sich z.B. ihre Meinung sehr gründlich, sie sind substanzorientiert, denken analytisch und sind oft hochkonzentriert und beharrlich auch bei komplexen Problemen. Wichtig ist, dass sie Stärken wie diese erkennen und sie auch zum Ausdruck bringen - damit die Extros sie mitbekommen. Manchmal hilft es schon, einfach einen Satz einzuschieben wie "Spannende Frage - lassen Sie mich einen Moment darüber nachdenken!" Die meisten Intros kommen auch mit einer Person als Gesprächspartner besser klar, als dass sie sich in einem Meeting Gehör verschaffen. Ich merke aber in meinen Coachings, dass sich solche Situationen relativ leicht trainieren lassen.
Haben leise Menschen einen Vorteil gegenüber lauten?
Oh ja. Neben den oben schon genannten Stärken sind sie z.B. ausgezeichnete Beobachter und Zuhörer, können sich gut in andere hineinversetzen und sind wegen ihrer Sicherheitsorientierung vorsichtig und zuverlässig. Bei Anlageberaterinnen oder Flugzeugpiloten wünsche ich mit letztere Eigenschaften sehr!
Warum werden stillere Menschen in unserer Gesellschaft häufig so stigmatisiert, also als schüchtern, zu empfindlich oder gar unsozial empfunden?
Weil der Standard der Kommunikation noch immer eher an den Extros orientiert ist. Das ändert sich allerdings allmählich. Deshalb ist es so leicht, einen ruhigen Menschen für arrogant oder fur schüchtern zu halten: Wir füllen die Ruhe mit unserer eigenen Bedeutung.
Allerdings haben es Intros in sehr stark extrovertierten Kulturen wie in den USA oder Brasilien schwerer - Deutschland liegt eher in der Mitte, während Japan oder Finnland Länder sind, in denen die Kommunikationskultur eher introvertiert ist.
Was sollte ein Introvertierter in der Kommunikation nach außen beachten, um sich selbst treu zu bleiben?
Die erste Bedingung ist die wichtigste: Intros sollten ihre Stärken kennen, aber auch ihre Hürden und Bedürfnisse. Die zweite Bedingung lautet: Wenden Sie Ihr Wissen an! Wer als Intro eine Woche in Klausur mit den Kollegen geht, muss nicht jede soziale Aktivität mitmachen. Wer Verwandte besucht, darf auch mal zwischendurch Luft holen - allein und in Ruhe.
Bei jedem Huhn fragen wir heute nach artgerechter Haltung - nur unsere eigene "artgerechte Haltung" beachten wir oft nicht.
Sie bezeichnen sich selbst als introvertiert. Dennoch halten Sie Seminare, netzwerken und treten bewusst nach außen. Wie gehen Sie damit für sich innerlich um?
Artgerecht! Ich begrenze die Zahl meiner Auftritte und Begegnungen, ich plane Schreib- und Konzeptphasen in meine Arbeitswochen ein. Das kommt meinen Auftraggebern und Coachees zugute: Sie bekommen mich nur mit "aufgeladenen Batterien" zu Gesicht. Und für mich sorgt ein solches Leben für eine größere Vielfalf: Ich schreibe viele Fachartikel und habe gerade ein neues Buchmanuskript abgegeben. Schreiben ist übrigens auch so eine leise Stärke: sehr introspektiv!
Haben Sie einen generellen, großen ersten Tipp für leise Menschen, um mit sich selbst und dem Umfeld im Reinen zu sein?
Die (extrovertierte) US-Countrysängerin Dolly Parton hat einmal gesagt: "Finde heraus, wer Du bist - und dann mache es mit Absicht." (Find out who you are, and do it on purpose.) Einen besseren Ansatz kann ich mir nicht vorstellen!
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