Leidenschaftlich lieben, verrückt und lebendig dem Wesentlichen auf der Spur sein. Davon träumen wir. Doch allzu oft steht der Alltag im Weg. Beispiele zeigen, dass das nicht immer so sein muss.
Es ist schon lange her, dass ich den Film "American Beauty" im Kino gesehen habe. Aber eine Szene daraus ist mir stark in Erinnerung geblieben: der Moment, in dem die Eheleute, die sich die ganze Zeit nur ankeifen, sich auf einmal wieder näherkommen. Oder besser gesagt, es ganz haarscharf verpassen, sich wieder näherzukommen. Die Frau betritt das Wohnzimmer und setzt sich aufs Sofa. Ihr Mann schaut sie an. Und plötzlich – warum auch immer – ist da dieses Knistern in der Luft: Entspannung und Anspannung zugleich.
Wenn Erotik am Alltag zerbricht
Er, leicht angetrunken, setzt sich zu ihr, kommt ihr immer näher, langsam, zärtlich. Küsst sie auf die Wange, dann auf den Hals. Sie mag das und dreht den Kopf weiter zur Seite. Schließt die Augen. Öffnet sie wieder – und sieht, wie schief ihr Mann die Bierflasche in seiner rechten Hand hält: "Du wirst die Couch ruinieren!", ruft sie. Das war's. Damals dachte ich, mein Gott wie spießig. Bei gutem Sex geht halt mal was kaputt.
Laut sein, wenn sich etwas unfassbar schön anfühlt
Heute kann ich die Ehefrau aus dem Film verstehen. Leider. Und dieses "leider" treibt mich um. Vor allem seit ich vor wenigen Tagen einem jungen Paar dabei zuhören musste, wie es sich eine Etage über mir liebte. Das brachte mich aus der Fassung. Nicht einfach nur, weil mir die Lautstärke unangenehm war, sondern weil mich diese Hemmungslosigkeit an jemanden erinnerte. An mich!
Beim Sex alles vergessen
Damals, als ich beim Sex noch nicht daran dachte, dass ich nachher noch die Waschmaschine ausräumen muss. Und als der Satz "Wer lebt, stört" von Tankred Dorst mir noch keine Angst machte. Heute störe ich niemanden mehr. Bin nicht zu laut, wenn sich etwas ganz unfassbar schön anfühlt. Komme nicht zu spät ins Büro, weil Zärtlichkeit mein Zeitempfinden durcheinanderbringt. Nein, ich habe alles unter Kontrolle. So wie die anderen auch. Nur fühlt sich das gar nicht gut an: immer zu funktionieren.
Elizabeth Taylor und Richard Burton: Amour fou
Warum können wir denn nicht mal mehr beim Sex den Kopf abschalten? Wenn schon nicht jenseits der Vernunft leben, dann doch wenigstens unvernünftig lieben? Amour fou, verrückte Liebe, nennen Franzosen eine Beziehung, in der die Vernunft ihre Macht an die Leidenschaft verloren hat. Elizabeth Taylor und Richard Burton waren zum Beispiel so ein Paar. Sie lernten sich kennen, als beide noch mit anderen Partnern verheiratet waren, konnten aber trotzdem, selbst in der Öffentlichkeit, nicht voneinander lassen. Ihre Liebe wurde zum Skandal. Sie stritten, heirateten, trennten sich. Heirateten wieder. Einmal sagte die Schauspielerin: "Viel besser als ich, Elizabeth Taylor, zu sein, gefällt mir, Richard Burtons Frau zu sein."
Dorothy Iannone malt erotische Gemälde
Auch die Malerin Dorothy Iannone hat so eine Amour fou gewagt. Mitte der 1960er-Jahre verließ sie ihren wohlhabenden Ehemann und gab die gemeinsame Galerie in New York auf, um mit dem deutschen Künstler Dieter Roth in Düsseldorf zu leben. Sie habe gar keine andere Wahl gehabt, erinnert sich die heute 81-Jährige. "Als ich Dieter sah, wusste ich, dass ich mein Leben ändern würde." Der Mann wurde ihr Muse. Und das bestimmende Thema ihrer erotischen Gemälde: die rückhaltlose Beziehung zum Geliebten. Hingabe.
Emanzipation und Hingabe schließen sich nicht aus
Hingabe! Sind wir dafür nicht längst viel zu emanzipiert? Dieser Frage geht auch die Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch "Warum Liebe weh tut" nach und erklärt, dass viele der Kämpferinnen in der romantischen Liebe die Wurzel allen Übels sehen, weil diese eben nicht die Quelle für Glück und Selbstverwirklichung darstellen würde, sondern im Gegenteil die Unterwerfung fordere.
Liebe macht frei
Für Dorothy Iannone allerdings ist Unterwerfung und ein selbstbewusstes Dasein als Frau kein Widerspruch. Ihre Gemälde erzählen vom Begehren, und manche zeigen sogar die Künstlerin mit ihrem Geliebten beim Sex. Andere wiederum ähneln Cartoons. In einem ihrer Bilder lässt sie den – natürlich nackten – Mann sagen: "Du verzeihst mir immer, und ich verzeihe dir immer." Die Frau antwortet: "Ja." Dorothy Iannone glaubt an die gegenseitige Unterwerfung. Also an die Gleichberechtigung. Und an die Freiheit, die daraus erwächst.
Amour Fou: Sex, Leidenschaft und Hingabe
Würde ich mich so etwas trauen? Mich jemandem hinzugeben, ohne Netz und doppelten Boden? Ohne zu fragen, was ich als Gegenleistung bekomme? Als Sicherheit? Heirat, Haus mit Garten oder Altersvorsorge kommen in einer Amour fou selten vor. Eher: Hotelzimmer, Liebesschwüre, und sehnsüchtige Nächte allein. Denn was eine Amour fou oft ausmacht, ist, dass ihr
der Alltag fehlt. Weil einer der beiden verheiratet ist. Oder weit entfernt wohnt.
Benoîte Groult: "Salz auf unserer Haut"
Oder wie in Benoîte Groults Roman "Salz auf unserer Haut" aus einer anderen Welt kommt, die mit der des Partners nicht vereinbar zu sein scheint. Die beiden Romanfiguren – sie eine Intellektuelle aus Paris, er ein bretonischer Fischer – sind sich sexuell völlig verfallen. Aber gemeinsame Freunde, gemeinsame Ziele, ein gemeinsames Leben? Unmöglich. Trotzdem ist so eine verrückte Liebe ein Geschenk, weil sie uns eine Lebendigkeit spüren lässt, wie wir sie sonst kaum noch erfahren.
Liebe als Selbstaufgabe und die Suche nach dem Wesentlichen
Aber sie ist auch eine Gratwanderung, weil wir uns in ihr nicht verlieren dürfen. Sonst sitzen wir tagelang vor dem Telefon, warten auf ein Zeichen, um weiterexistieren zu können. Überlegen uns Strategien, damit er anruft. Plötzlich scheint es nur noch diesen Mann zu geben. Und wir nur noch durch ihn zu sein. Das ist das Gegenteil von Freiheit. Und auch keine Hingabe, sondern die Aufgabe der eigenen Person.
Wer sich hingegen tatsächlich hingibt, überwindet zwar sein Ego – ist aber deshalb ganz er selbst. Nichts wird vor dem anderen versteckt, und es werden auch keine Spielchen gespielt, die in die Irre führen. Sondern man kommt ganz nah ran ans Wesentliche.
"Beim Orgasmus streift die Seele das Gesicht"
Von diesem Wesentlichen erzählt Dorothy Iannones Installation "I Was Thinking Of You". Ein Video, "das mein Gesicht in verschiedenen Stadien sexueller Erregung zeigt, die schließlich in einen Orgasmus münden", erklärt die Künstlerin. Was dieser Film dem Betrachter mitteilen soll? "Ich wollte den Eindruck von etwas geben, das man, sagen wir einmal, die Seele nennen könnte, die im Moment des Orgasmus für einen flüchtigen Augenblick über das Gesicht streift." Sex als mystisches Ereignis, als Offenbarung. Die Seele zeigt sich aber nicht, wenn man beim Sex den Bauch einzieht, um dem Mann zu gefallen. Oder hofft, dass die Nachbarn nichts hören. Oder darauf achtet, dass das Sofa nicht schmutzig wird. Sondern nur wenn man das Gedankenkarussell abschaltet.
Dem Geheimnis des Lebens auf die Spur kommen
Ein neuer Liebhaber, klar, der könnte mir dabei helfen, schleunigst den Verstand zu verlieren. Unvernünftig zu werden. Aber wie lange? Höchstwahrscheinlich doch nur, bis sich die Hormone wieder beruhigt haben. Nein, es geht um viel mehr, als sich mal wieder kurzfristig verrucht und sexy zu fühlen – darum, dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen. Und das gelingt, sobald man, statt immer an alles zu denken, alles um sich herum vergisst: den von Psychologen so oft zitierten Zustand des Flows empfindet. Das kann, wie wir wissen, beim Klavierspielen gelingen, beim Wandern oder eben – und vielleicht am intensivsten – beim Sex. Denn genießen wir voller Lust den Moment, durchbrechenwir Abwehrmechanismen, reißen Mauern ein. Das Innerste wird sichtbar. Wer sich dem Partner hingibt, gibt sich dem Leben und schließlich auch sich selbst hin. Oder um es mit Dorothy Iannones Worten zu sagen: "Ich begann, nach dir in meinem eigenen Herzen Ausschau zu halten."
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