Kann man mit mehr als einen Partner zusammen sein? Der Paartherapeut und Buchautor Holger Lendt über Begehren, Kommunikation und einen "polyamoren" Lebensentwurf.
EMOTION: Sie arbeiten als Berater für große Partnervermittlungsportale. Wie wichtig ist Liebessuchenden die Treue?
Holger Lendt: Bei Singles liegt Treue meist auf den oberen 3 Plätzen der wichtigsten Beziehungswünsche. Wenn man nach den Prioritäten von Menschen in Langzeitbeziehungen fragt liegt Treue eher auf Platz 10.
Woran könnte das liegen?
Das hängt mit den Erwartungen zusammen. Wir sehnen uns nach dem einen Menschen, der zu 100 Prozent zu uns passt und projizieren all unsere Sehnsüchte auf ihn. So muss mein Partner meine Interessen teilen, mich verstehen, stets interessant bleiben und darf auch nur mir "gehören". In einer Beziehung tritt eine echte Bindung an die Stelle von fiktiven Sehnsüchten und Ängsten und die Wichtigkeit von Treue nimmt ab.
Was ist denn so schlecht an der Idee einer treuen Beziehung?
Gar nichts! Nur verstehen wir Treue falsch. Das Wort bedeutet ursprünglich „stark, fest, dick“ und ist eng verwandt mit Vertrauen. In der Monogamie wird das gleichgesetzt mit dem Verbot andere zu begehren oder zu lieben, außer dem Partner. Da uns das trotzdem oft passiert, macht diese Art der Treue Beziehungen aber eher anfälliger und nicht stärker. Treue als Gebot verbindlich zu lieben ist unabhängig von der Zahl der Partner und zeichnet Langzeitbeziehungen aus. Die Statistiken zeigen, dass Treue - als Verbot verstanden - zur Unverbindlichkeit führt. Es wird immer schneller fremdgegangen oder sich getrennt.
Wir reden also von einem gesellschaftlichen Problem?
Richtig! Wir leben in fatalen Widersprüchen. Wir glauben, wir seien sexuell befreit, doch Sex ist immer noch der schmuddelige Bruder der Liebe. Wir denken, wir seien emanzipiert und trotzdem geben wir Frauen mit abwechslungsreichem Liebesleben andere Namen als Männern. Wir schätzen Individualität, aber in der Liebe gehen alle selbstverständlich den gleichen Weg, obwohl er so vielen nicht zu passen scheint. Unsere Gesellschaft ist patriarchal. Das heißt sie basiert auf Besitz und Gewalt zur Verteidigung und Mehrung des Besitzes - auch in unserem Beziehungsmodell, mit all seiner Eifersucht.
Wollen Sie damit sagen, dass unser Gesellschaftsentwurf verändert werden muss?
Das wäre schön, doch es würde schon reichen, wenn mehr Menschen die Freiheit nutzen würden, individuelle Lösungen in der Liebe zu finden. Die Probleme mit denen sich Paarberatung befasst, basieren überwiegend auf dem stillschweigend etablierten "wir bleiben uns ewig treu". Das heißt: Für uns sind Partnerschaft und Monogamie quasi identisch – obwohl es ganz andere Modelle zu lieben gibt. Doch über die machen sich die meisten nicht einmal dann Gedanken wenn bereits ein Seitensprung stattgefunden hat.
Ist Lust auf einen Seitensprung nicht ein sicheres Zeichen für das Ende der Liebe?
In manchen Fällen mag das so sein. Aber oft ist die Liebe zum Partner vollkommen ungebrochen. Es sind nur die Gesetze der Monogamie, die diese Lust kriminalisieren. Zumindest in offenen und polyamoren Beziehungen gibt es ja ständig Lust und Liebe mit anderen, ohne dass das zum Bruch der anderen Beziehungen führt. Es ist doch spannend, wie viele Möglichkeiten entstehen, wenn wir nur das Dogma der Monogamie über Bord werfen würden.
Ist die Gefahr nicht groß, dass man sich verliebt, wenn man Sex mit Anderen hat?
Natürlich, aber unter polyamoren Spielregeln ist das überhaupt keine Gefahr. Das Buch empfiehlt kein Beziehungsmodell, sondern eine flexiblere Haltung zur Liebe. Dafür müssen wir aber erstmal um Alternativen wissen und dann können wir uns davon in Frage stellen und anregen lassen.
Das heißt, man darf nicht nur mit verschiedenen Menschen Sex haben, man darf sogar verschiedene Menschen lieben?
Das "Darf" in Beziehungen sollten immer die Beteiligten definieren. Wer polyamor liebt, darf mehrere Menschen lieben, muss aber auch akzeptieren, dass seine Partner es ebenso halten.
Das stelle ich mir ganz schön schwer vor!
Für monogam Erzogene ist es das auch zunächst. Man muss erst lernen, dass Menschen nicht besitzbar sind und die eigene Freiheit unweigerlich mit der Freiheit des Gegenübers einher geht. Das ist ein bisschen so, wie wenn ein Kind ein Geschwisterchen bekommt und lernen muss, dass die Liebe zu ihm nicht abnimmt, nur weil die Eltern jetzt auch den kleinen Bruder oder die kleine Schwester lieben. Und wir sollten bedenken, wie bereichernd ein polyamores Leben sein kann! Wir haben die Möglichkeit neue Partner kennen zu lernen ohne bereits bestehende Beziehungen zu verlieren.
Was würden Sie Menschen mit auf den Weg geben, die auf Beziehungssuche sind oder sich, in einer Beziehung, nach anderen Partnern sehnen?
Hören Sie der Liebe zu, wenn sie zu Ihnen spricht und dann seien Sie ehrlich mit sich und allen Beteiligten. Das heißt meistens reden, reden, reden! Am besten zu Beginn einer Partnerschaft! Entwickeln Sie gemeinsam Ihre Regeln und bleiben sie darüber im Gespräch! Nur, wer seine Wünsche äußert, kann darauf hoffen, dass sie wahr werden! Und nur wer die Liebe gut behandelt wird von ihr gut behandelt werden.
Holger Lendt ist Psychologe und Sexualwissenschaftler und hat - gemeinsam mit der Therapeutin Lisa Fischbach - ein Buch über den polyamoren Lebensentwurf geschrieben.