Um wirklich einen Blick auf jemanden zu erlangen, müssen wir Fragen stellen. Die Ärztin und Autorin Astrid Seeberger erklärt im Interview, wie wichtig gute Gespräche sind und wie man sie führt.
Als langjährige Ärztin weiß Astrid Seeberger, wie wichtig ein Gespräch sein kann. In ihrem neuen Buch "Schamlose Neugier" berichtet sie von Patientengeschichten. Das Wichtigste dabei aber war immer das Gespräch. Wenn man alle Wertung über den Gesprächstpartner fallen lässt und sich ihm mit einer Neugier zuwendet, die sich traut, bis ins kleinste Detail zu fragen, erhält man die Chance, jemanden wirklich zu sehen. Solche Gespräche können unglaubliche Kraft spenden.
EMOTION: Wieso trauen wir uns manchmal nicht, ein persönliches Gespräch zu beginnen?
Astrid Seeberger: Weil wir uns für Dinge schämen, die wir getan haben in unserem Leben, die uns im Nachhinein nicht mehr entsprechen. Die vielleicht auch wirklich schlimm waren. Oder auch für unser Äußeres. Wenn wir glauben, nicht gut genug auszusehen. Scham ist ein ganz gewöhnliches Gefühl beim Menschen und kann uns hemmen.
Wie führt man denn ein gutes Gespräch?
Das Wichtigste ist erst einmal, dass man den anderen akzeptiert wie er ist. Man muss ihm das Gefühl geben, dass er so sein darf, wie er ist, egal was er getan hat oder wie er aussieht. Ich zitiere hierfür gern den römischen Dichter Terenz: "Ich bin Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd". Wenn man dem Gesprächspartner dieses Gefühl vermitteln kann, passiert etwas Wunderbares: Er öffnet sich und man kann einen Blick auf den Menschen selbst erlangen.
Wie wichtig ist die reale Kommunikation?
Ohne Gespräche kann der Mensch nicht leben, sie sind essentiell für uns. Leider nehmen wir uns heute immer weniger Zeit dafür. Auch durch das Internet, in dem man häufig nicht persönlich miteinander spricht, geht die Ebene der Gestik und Mimik verloren.
Wie werde ich ein guter Zuhörer?
Indem Sie erkennen, was Ihr Gegenüber braucht. Es gibt Menschen, die sind geborene Erzähler und es gibt Menschen, denen man viele Fragen stellen muss.
Wie vertiefe ich eine oberflächliche Unterhaltung?
Indem ich persönliche Fragen stelle, um ein ganz genaues Bild von dem Menschen zu bekommen. Man muss ins Detail gehen und auch Fragen stellen, die jemand nicht erwartet. Man darf sich nicht schämen, etwas wissen zu wollen.
War Ihnen deswegen schon einmal jemand böse?
Ich kann mich nicht daran erinnern, nein. Aber man spürt ja zum Beispiel auch, wenn man auf einen Widerstand trifft. Manchmal dauert es länger, bis sich jemand öffnen möchte, man darf nur nicht locker lassen.
Verändern sich Menschen durch schamlose Neugier?
Ja, sehr oft. Ein Patient zum Beispiel, der keine Dialyse wollte, hat durch ein Gespräch letztlich dahin gefunden, weiterleben zu wollen. Man kann durch diese Kommunikationsform eine Wendung im Leben eines Menschen erreichen. Das ist etwas sehr Schönes.
Mit wem reden Sie besonders gerne?
Mit Lech, meinem Lebenspartner, denn er kann wunderbar zuhören und Fragen stellen.
Astrid Seeberger erhält den Hippokratespreis 2012 der Schwedischen Ärztegesellschaft für ihr außergewöhnliches ethisches Engagement im Bereich Medizin:
"Seit vielen Jahren hebt Astrid Seeberger die Bedeutung und den Wert ethischer Fragen sowohl das Gesundheitswesen und die Krankenpflege als auch die Arztausbildung betreffend, hervor. Sie praktiziert auf eine außergewöhnliche Weise und schafft Vorbilder im klinischen Alltag. In ihrem schriftstellerischen Werk steht die Verteidigung eines humanistischen Gesundheitswesens im Zentrum." (Schwedische Ärztegesellschaft (Svenska Läkaresällskapet - SLS)