Wer treu ist– dem Partner, einer Sache oder sich selbst – wirft einen Anker, sagt unsere Kolumnistin. Und den brauchen wir. Weil wir in einer Welt leben, in der das einzig Beständige das Unbeständige ist.
Jemandem ewige Treue zu versprechen ist ein großes Bekenntnis, aber keine Garantie. Auch wenn wir das gern hätten. Denn so – das glauben wir zumindest – muss sich Romantik anfühlen. Liebe wie im Märchen: Ich bleibe bei dir, komme, was da wolle.
Die Realität sieht allerdings anders aus: Fast die Hälfte aller Ehen wird geschieden, und angeblich geht jeder dritte Mann fremd. Auch sonst scheint es nicht vieles zu geben, dem wir gern ein Leben lang die Treue halten. Wir gehen mit der Mode, wechseln unser Smartphone jedes Jahr, damit wir kompatibel bleiben mit dem Rest der Welt. Und trotzdem – oder gerade deshalb – ist da diese Sehnsucht. Der Wunsch danach, dass das, was wir in einem bestimmten Augenblick für wichtig halten, sich nicht mehr verändern soll.
Dinge ändern sich halt
Der Treue die Treue zu halten – passt das überhaupt noch in unsere moderne Zeit, in der Flexibilität längst als eins der höchsten Güter gilt?
Wahrscheinlich ist dieser Wider- spruch auch der Grund, warum wir ein so zwiegespaltenes Verhältnis zur Treue haben. Sie im einen Moment hochhalten und im nächsten schleunigst über Bord werfen: Die Dinge ändern sich halt, sagen wir dann achselzuckend. Aber brauchen wir Treue nicht genau deshalb so dringend? Weil sich die Dinge ständig ändern und wir ohne Treue wie ein Papierschiffchen auf den Wellen hin und her schaukeln würden? Richtungslos, dem Wind ausgeliefert – der mal in die eine, mal in die andere Richtung bläst.
Unter Treue versteht man nicht, verbissen an etwas festzuhalten
Schon der Philosoph Immanuel Kant sagte, es sei allein die Unbeständigkeit, mit der wir beständig rechnen können. Wenn dem tatsächlich so ist, müssen wir einen Anker werfen, um Halt zu finden, um nicht unterzugehen. Und das kann zum Beispiel durch Treue gelingen. Durch die Treue zum Partner, zu Freunden, zu einer Sache, zu uns selbst. Die Denkerin Lou Andreas-Salomé, eine Zeitgenossin von Nietzsche und Rilke, hat übrigens einmal geschrieben, dass nur derjenige, der sich selbst treu bleibt, jemand anderen lieben kann. Einfach deshalb, weil er nur dann ein wirkliches Gegenüber ein echter Partner ist.
Dinge loslassen können
Aber Vorsicht: Unter Treue versteht man nicht, verbissen an etwas festzuhalten. Im Gegenteil. Manchmal fordert Treue uns geradezu auf, Dinge loszulassen – damit wir wahrhaftig bleiben. Es geht nicht um Prinzipienreiterei oder darum, etwas zu tun, weil man es schon immer so getan hat. Deshalb ist es sinnvoll, sich zu fragen: Was lässt mich eigentlich treu sein? Ist es meine innere Überzeugung? Oder eher Sturheit? Womöglich Bequemlichkeit, die sich im Laufe der Jahre breitgemacht hat? Haben wir schlicht und ergreifend Angst, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen? Uns zu fragen, ob wir noch auf dem richtigen Weg sind? Antworten auf diese Fragen müssen wir wohl oder übel allein finden. Denn eben das sind wir uns selbst schuldig – wenn wir uns denn treu bleiben wollen.
Was ich zurzeit lese:
NICHTS. Aber nur kurz, bis zum nächsten spannenden Buch.
Wer mich vor kurzem besonders beeindruckt:
Die überwältigende Stimmung von 90000 Trauergästen, die sich in Soweto von Nelson Mandela verabschiedeten – einem Mann, der einer Idee, einer inneren Überzeugung so lange die Treue hielt, bis sie ein ganzes Land verändert hat.
Ina Schmidt, 39, ist Philosophin und Autorin. Sie hat die Initiative „denkraeume“ gegründet, mit der sie die Weisheit großer Denker aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft in den Alltag holt.