Eine schwierige Frage. Vor allem in einer Zeit, in der nur eins zählt: außergewöhnlich zu sein. Längst ist nämlich das Abweichen von der Norm zur Norm geworden. Unsere Kolumnistin jedoch genießt die Normalität, statt sie ständig zu bekämpfen
Alles Mögliche wollen wir gern sein, nur bitte nicht normal. Normal – das klingt nach Gewohnheit, nach Max Mustermann und Lieschen Müller, nach langweiligem Durchschnitt. Aber was ist eigentlich normal? Und warum? Normalität bezieht sich auf das Einhalten von Normen. Denn Normen sind nicht nur Richtlinien für Qualitätsmanagement oder Büromöbel, sondern legen auch wichtige Kriterien im sozialen Miteinander fest. Eine Norm ist weniger als ein Gesetz, aber mehr als eine Vereinbarung unter Einzelnen. Normal ist also das, woran man sich gemeinhin hält. Dadurch glänzt das Normale meist durch die Abwesenheit großer Überraschungen, es glitzert und flirrt nicht. Normalität lässt sich nur schwer posten, und wenn man es doch tut, interessiert sie niemanden.
Alles andere als normal
Deshalb strengen wir uns an, bloß nicht normal zu sein. Und wünschen uns natürlich, dass das auch bemerkt wird – ein wenig Bewunderung wäre nicht verkehrt! Schauen wir uns allerdings im Bestreben nach dem Außergewöhnlichen genauer um, dann scheint das vermeintlich Normale oftmals gar nicht mehr so normal. Denn tatsächlich ist es ja die Masse, die am liebsten etwas Besonderes sein will. So sind viele Normen nur noch gut gemeinte Ratschläge, die wir annehmen oder – was immer häufiger passiert – in den Wind schlagen können. Konsequenz: Die Abweichung von der Norm ist heute die Norm.
Iris Radisch schildert in ihrem Buch "Die Schule der Frauen" unsere rastlose Suche nach dem anderen sehr anschaulich, wenn sie den jungen Familienvater beschreibt, der mal etwas so richtig Verrücktes machen möchte und sein Hemd auszieht, um dann den Rasen zu mähen. Damit will er ausdrücken: Hey, seht her, ich bin so verrückt, dass ich sogar spießig sein kann! Oh je, wir haben wirklich etwas enorm Außergewöhnliches erschaffen und das Normale in sein eigenes Gegenteil verkehrt. Jetzt ist nur die Frage, wie wir da wieder rausfinden – natürlich, ohne zu echten Spießern zu werden.
Gibt es Normalität überhaupt?
Vielleicht hören wir einfach mal – nur für einen Moment – damit auf, uns selbst bei all dem, was wir tun, zu beobachten und den Ausstellungswert unserer Handlungen abzuschätzen. So formuliert es der zeitgenössische Philosoph Byung-Chul Han. Womöglich spüren wir dann, dass es so etwas wie Normalität überhaupt nicht gibt und dass das, was wir dafür halten, ein kostbarer Sonderfall unseres modernen Lebens ist. Nämlich die selten gewordene Tatsache, dass die Dinge einfach ihren Gang gehen, dass wir damit kein Problem haben, dass es ist, wie es ist, und wir auch gar nicht viel verändern würden, selbst wenn wir es könnten.
So viel Normalität ist eben alles andere als normal. Und deshalb sollten wir sie hin und wieder einfach mal genießen, statt sie zu bekämpfen. Denn eins ist sicher: Die nächste Störung unseres ach so ruhig dahin plätschernden Lebens kommt bestimmt, ob wir wollen oder nicht.
Ina Schmidt, 39, ist Philosophin und Autorin. Sie hat die Initative "denkraeume" gegründet, mit der die die Weisheit großer Denker aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft in den Alltag holt.