Wenn das Zusammenspiel von Körper und Seele aus der Balance gerät, kann unsere Psyche unseren Organismus krank machen. Doch wie funktioniert das genau? Und wie finde ich mein inneres Gleichgewicht wieder?
"Manchmal habe ich das Gefühl, jeder hat mittlerweile Rücken!", sagt die Psychosomatikerin Martina de Zwaan. Und dieser Eindruck ist nicht ganz falsch: 69 Prozent der Deutschen klagen über Rückenschmerzen, 34 Prozent haben die Schmerzen chronisch. Die Muskel- und Skeletterkrankungen, zu denen der chronische Rückenschmerz gehört, führen die Statistiken aller Krankenkassen an - "Rücken" ist die Volkskrankheit Nummer eins. Grund für die meisten Arbeitsunfähigkeitstage pro Jahr. Grund für viele, viele Arztbesuche, Untersuchungen und Medikamente. Mehr als 25 Milliarden Euro verschlingt das Rückenproblem jährlich in Deutschland.
Rückenschmerz? Typisch Frau!
Warum Frauen dabei deutlich häufiger betroffen sind als Männer? Experten sehen mindestens drei verschiedene Ursachen am Werk: Zum einen das höher ausgeprägte weibliche Schmerz- und Körperbewusstsein. Zum anderen die soziale Mehrfachbelastung der Frauen in der modernen Industriegesellschaft. Zum Dritten, banal aber wahr, gehören Rückenschmerzen zu den häufigsten Menstruationsbeschwerden - die naturgemäß nicht in der Männer-Statistik auftauchen.
Keiner denkt an seelische Ursachen
Aber was hat unser Rücken eigentlich mit der Seele zu tun? Kommen die Schmerzen nicht eher vom falschen und vielen Sitzen? Vom Heben? Von hohen Schuhen? Oder weil man sich nachts verlegen hat?
"Natürlich auch. Aber das Phänomen Rückenschmerz ist viel komplexer: Erst mal muss man zwischen akutem Rückenschmerz und chronischem unterscheiden", erklärt Professorin de Zwaan. Sie leitet die Abteilung für Psychosomatik an der Medizinischen Hochschule in Hannover.
Akute und chronische Rückenschmerzen
"Akuter Rückenschmerz hat einen Auslöser. Etwa eine Verletzung, eine Zerrung, falsches Heben. Der Schmerz hat dann eine Warnfunktion und nach ein paar Tagen verschwindet er wieder. Chronischer Schmerz hält an oder kommt immer wieder." Nach drei bis sechs Monaten spricht man von chronisch, selbst wenn schmerzfreie Phasen dazwischenliegen. "Und das ist eine eigene Störung. Monatelanger Rückenschmerz wird rein körperlich nicht zu behandeln sein."
Doch die meisten Menschen denken nicht zuerst an ihre Seele, wenn es im Kreuz brennt oder der Nacken spannt. Eine Studie der DAK ergab sogar, dass nur zehn Prozent der Deutschen glauben, dass Stress oder Konflikte mit dem Rückenschmerz in Verbindung stehen.
Gesunde Reaktion oder schon eine Krankheit?
Dabei erzählen viele Redewendungen von dem Zusammenspiel zwischen Rücken und Befinden: Halsstarrig kann man sein. Etwas lastet schwer auf den Schultern. Wir buckeln wie blöde, machen uns krumm, verbiegen uns und sind geknickt. Oder wir sollen uns endlich mal locker machen. Wohl aus Unwissenheit oder Verdrängung plagen sich manche viele Jahre lang mit dem Schmerz. Kehren im Wechsel ein bei Orthopäden, Osteopathen, Chiropraktikern. Lassen renken, spritzen, massieren. Werden in Röhren geschoben und suchen und suchen nach somatischen, also körperlichen Ursachen für den Schmerz, nach einer Diagnose.
Wie Schmerz entsteht
Das Merkwürdige daran: Bei 85 Prozent aller chronischen Rückenleiden kommt es zu keinem körperlichen Befund. Noch verrückter: Untersucht man Menschen, die noch nie Rückenprobleme hatten, findet man die gesamte Palette körperlicher Schäden von der Vorwölbung an den Bandscheiben bis zu Verschleißerscheinungen. "Interessant, oder? Die Frage ist also eher: Was ist Schmerz? Wie entsteht Schmerz? Wer hat Schmerzen?", fragt Martina de Zwaan und erklärt: "Der häufigste psychische Auslöser für Schmerz ist das
Gefühl, ausgeschlossen zu werden. Und das liegt daran, dass das seelische Empfinden und das Schmerzempfinden im Gehirn die gleiche neuroanatomische Grundlage haben."
Wo die Gefühle gesteuert werden, liegt auch das Schmerzempfinden
"Körperschmerz und Seelenschmerz sind daher eng miteinander verwoben." Dann kommt auch noch das Schmerzgedächtnis ins Spiel: Bei andauernden Beschwerden verändern sich die Nervenfasern - der Körper merkt sich den Schmerz. Dann kann schon ein leichter Reiz, etwa eine Berührung, als Schmerz wahrgenommen werden. So entsteht ein Teufelskreis für die Betroffenen: Der körperliche Schmerz, ausgelöst durch seelischen Schmerz und abgespeichert im Schmerzgedächtnis, führt wiederum zu neuem seelischen Schmerz.
Rückenschmerz und Depression
Tatsächlich zeigen 80 Prozent aller Rückenpatienten auch depressive Symptome. "Deshalb trennen wir das Körperliche und das Seelische in der psychosomatischen Behandlung auch nicht mehr. Wir versuchen eher, diesen schwierigen Kreislauf von allen Seiten zu durchbrechen."
Muskeln spannen sich bei Stress an
Nur wann genau beginnt dieser Teufelskreis? "Bei Stress spannen wir unsere Muskeln an", so Professorin de Zwaan. Das ist ein evolutionsbedingter Reflex, um schnell kämpfen oder fliehen zu können. "Baut sich dieser Druck aber nicht ab, bleibt die Verspannung." Es entstehen regelrechte Muskelpanzer, der brettharte Rücken. "Am empfindlichsten sind der Halswirbel- und der Lendenwirbelbereich."
Und nicht nur der Rücken leidet: Der gesamte Bewegungsapparat hängt mit der Wirbelsäule zusammen. "Auch Spannungskopfschmerzen, Migräne, Schulter-Arm-Syndrome, sogar Kniebeschwerden können dadurch ausgelöst werden."
Die drei Säulen der Behandlung
Wegen dieser komplexen Wechselspiele sollten Schmerzsyndrome ganzheitlich von verschiedenen Seiten behandelt werden. "Wir nennen das ein multimodales Behandlungskonzept. Es hat drei Säulen: die Schmerztherapie, die Bewegungstherapie und Psychotherapie", erklärt die Medizinerin. Und sie empfiehlt, eben nicht nur zum Orthopäden zu gehen, sondern sich in eine psychosomatische Ambulanz oder Tagesklinik überweisen zu lassen, denn "hier zieht ein ganzes Team an einem Strang. Es gibt Konferenzen und Austausch."
Die Schmerztherapie
Die Schmerzmediziner versuchen, "die Angst-Vermeidungshaltungen zu reduzieren". Denn Schmerz führt automatisch zu Angst vor noch mehr Schmerz: Man nimmt eine scheinbar entlastende Schonhaltung ein. "Die führt aber in Windeseile zu neuen Baustellen: falsche Belastungen, Überreizungen, Verkürzungen von Muskeln und Bändern. Das sind rein körperliche Folgeschäden."
Die Bewegungstherapie
In der Bewegungstherapie erarbeiten Physiotherapeuten und Sportmediziner ein individuelles Programm für jeden Patienten - sind schon Verkürzungen da? Entzündungen? Ein individueller Bewegungsplan wird aufgestellt: Ausdauersport, Physiotherapie, Manuelle Therapie, Yoga, Gymnastik.
Die Psychotherapie
Die dritte Säule bildet die Psychotherapie. Zu den ersten Schritten gehört die Selbstbeobachtung: Tritt der Schmerz punktuell oder phasenweise auf? Wann taucht er auf? "Es sagen zwar alle erst mal: 'Es tut immer weh', aber das stimmt selten", weiß Martina de Zwaan. Dann wird hinterfragt: Warum wird der Schmerz genau dann stärker - auf dem Weg zur Arbeit oder abends im Bett? "Das ist die Suche nach den eigentlichen Stressfaktoren. Und nach dem sozialen Schmerz." Denn diese Stressfaktoren führen zu den Verkrampfungen,
die uns verspannen und dann das körperliche Gleichgewicht gefährden.
"Anschließend üben wir die Stressbewältigung"
Da gehört auch das Erlernen von Entspannungsmethoden dazu – wie etwa autogenes Training oder progressive Muskelentspannung. Manchmal wird auch "Biofeedback" eingesetzt: Bei der Methode wird das verspannte Muskelareal verkabelt und an eine Maschine angeschlossen, die diese Anspannung misst. Ein Ton signalisiert, wie verspannt das Areal ist. Ändert der Patient seine Haltung und lässt locker, entspannt sich die Muskulatur und der Signalton wird leiser.
Der Patient hat Einfluss auf sein Wohlbefinden
Patient begreift: "Ich habe einen Einfluss auf meine Anspannung! Ich kann das selber steuern!" Teil der Psychotherapie ist aber auch die Motivation zur Bewegung. "Aktivität ist beim Rückenschmerz unglaublich wichtig." Denn "passive Behandlungen wie Massagen oder Bäder führen bei Weitem nicht zu so guten Behandlungserfolgen wie Bewegung", so die Professorin.
Beweglich bleiben
Bewegung ist auch die beste Methode, um vorzubeugen. "Schon ein Spaziergang mobilisiert Muskeln, Bänder und Gelenke", erklärt der Sportwissenschaftler Uwe Dresel, Rückenexperte der DAK. Außerdem wirkt vor allem Ausdauersport nachweislich antidepressiv und stressabbauend. Dressel empfiehlt: Sportarten ohne punktuelle Belastung - etwa Schwimmen, Gymnastik oder Nordic Walking.
Rückenschmerz als Volkskrankheit
Wer sich noch fragt, wie das Rückenleiden überhaupt zur Volkskrankheit werden konnte, bekommt von Martina de Zwaan eine klare Antwort: "Es ist eine Zivilisationskrankheit: Wir sitzen zu viel und bewegen uns zu wenig. Werden dann noch die seelischen Stressfaktoren, etwa Leistungsdruck, mehr, dann geht das ganz schnell."
Wenig Bewegung im Alltag
Bürojobs, Autos, Rolltreppen - die gut gemeinten Erleichterungen rächen sich also an Körper und Seele. Smartphones und Notebooks trifft eine neue Mitschuld: Wer etwa ständig gebeugt und gebückt mit gesenktem Kopf sitzt, dem gaukelt der Körper durch die Haltung eine depressive Stimmung vor. Und schließlich glaubt die Seele es tatsächlich - wir fühlen uns depressiv.
Gesunder Rücken durch gesunde Haltung
Psychologen untersuchen diesen Zusammenhang schon länger und warnen: Durch die Smartphones wachse eine "Head-down-Generation" heran. Ein gesunder Rücken hat also auch etwas mit unserer Haltung zu tun. In unserer Sprache hat dieses eine Wort gleich zwei Bedeutungen: Zum einen die Körperhaltung, aber auch die eigene Einstellung – zu den großen und wichtigen Themen im Leben. Schenken wir dieser Doppeldeutigkeit vielleicht zu wenig Aufmerksamkeit? Sollten wir womöglich "gerader" sein? Aufrechter?
Das Gleichgewicht halten
Professorin de Zwaan seufzt. "Nein, da schwingt mir viel zu viel Deutendes mit. Ich würde eher sagen: Es geht um das Gleichgewicht." Denn wir leben in unserer Gesellschaft immer stärker zwischen widersprüchlichen Anforderungen: Sitzen und Bewegen. Ängsten und Selbstdarstellung. Leistung und Entspannung. Körper und Seele. Keine Frage: Das eigene Gleichgewicht zu finden und zu halten, gehört zu den wichtigsten Aufgaben unserer Zeit. Denn, da ist sich die Expertin sicher: "Um schmerzfrei zu sein, müssen wir
wieder zurück zu mehr Balance."