Wenn das Zusammenspiel von Körper und Seele aus der Balance gerät, kann unsere Psyche unseren Organismus krank machen. Doch wie funktioniert das genau? Und wie finde ich mein inneres Gleichgewicht wieder?
Wenn die Psyche unsere Verdauung beeinträchtigt…
Dass sich unser Bauch schnell von der Seele aus dem Gleichwicht bringen lässt, kennen wir alle. Die unglaubliche Macht unserer Seele kann uns einiges bescheren: Sie kann uns Schmetterlinge in den Bauch zaubern, aber auch Steine in den Magen legen. Von klein auf hören wir solche Weisheiten, diese Floskeln zu unseren Befindlichkeiten: Schlechte Nachrichten müssen erst mal verdaut werden, schlagen auf den Magen oder liegen schwer darin. Bei anderen Dingen wird einem übel, sie verderben einem den Appetit, manches ist sogar zum Kotzen. Diese Redewendungen erzählen davon, wie normal körperliche Reaktionen auf seelische Empfindungen sind. Sie erzählen vom Wechselspiel unserer Psyche mit unserem Körper, der im Griechischen "Soma" heißt: Sie erzählen uns also von der Psychosomatik. Das intelligente Bauchgehirn.
Psyche, Magen und Darm: Das kleine Bauchgehirn
Unser Bauch, also Magen und Darm, gehört zu den am häufigsten betroffenen Organen, die verrücktspielen, wenn unser Organismus aus dem Lot gerät. Aber wie genau funktioniert die Kommunikation zwischen Seele und Körper? Woher weiß unser Magen zum Beispiel, dass wir Sorgen um die Versetzung des Sohnes haben, uns der Ehemann betrügt oder der neue Chef ein Choleriker ist? "Ziemlich schlau, oder?", sagt Prof. Dr. med. Martina de Zwaan und lacht. Die Professorin für Psychosomatische Medizin erforscht an der Medizinischen Hochschule Hannover die Zusammenhänge zwischen Seele und Körper und behandelt Menschen, deren Psyche den Körper krank macht.
Der Magen-Darm-Trakt verfügt tatsächlich über ein ,little brain‘, auch Bauchgehirn genannt", erklärt sie. "Dieses Bauchgehirn tritt in Kommunikation mit unserem Gehirn und veranlasst etwa, dass Botenstoffe ausgeschüttet werden.
Prof. Dr. med. Martina de ZwaanTweet
Wie stark ist die Psychosomatik tatsächlich?
Diese kommunikativen Abläufe unseres Bauchgehirns sind bei Weitem noch nicht alle erforscht. Bekannt ist aber, dass Angst und Stress dazu führen, dass Adrenalin ausgestoßen wird. Das Hormon hemmt die Magen-Darm-Peristaltik und stört bei längerem Bestehen unsere Verdauung. Diese Abläufe funktionieren automatisch und beruhen auf evolutionären, also uralten Mechanismen. Vor Jahrtausenden hatten die auch durchaus ihren Sinn – auf der Flucht ist es zum Beispiel wichtiger, alle verfügbare Energie ins Wegrennen zu investieren als in das Verdauungssystem. Da der Stress heutzutage aber oft länger anhält als ein paar Stunden und Flucht auch meist keine Option mehr in Krisenmomenten darstellt, können diese Mechanismen eher stören als nützen und unseren Organismus aus dem Gleichgewicht bringen.
Gesunde Reaktion oder schon eine Krankheit?
Doch ab wann wird aus der meist harmlosen Interaktion zwischen Psyche und Leib eine Krankheit?
"Vor einer Prüfung, einer Reise – da hat das jeder mal. Das ist auch psychosomatisch, aber eben ganz normal", sagt Martina de Zwaan. "Die Übergänge zur Krankheit sind fließend und vor allem subjektiv." Zwei Menschen können die gleichen stressbedingten Magenschmerzen haben, doch während sie dem einen Angst machen, weil er sie für ungesund hält, nimmt der andere sie gelassen hin und sagt: Ach, die sind bald wieder weg. Wenn der Schmerz chronisch wird, also mehrere Monate anhält, sollte man sich aber grundsätzlich behandeln lassen, rät Martina de Zwaan, "vor allem dann, wenn der Mensch eine deutliche Beeinträchtigung seines sozialen Lebens empfindet". Wenn wir also nicht mehr zur Party wollen, weil wir fürchten, dass uns dort eine Bauchattacke überkommt. Wenn schon abends beim Gedanken an den nächsten Arbeitstag der Magen schmerzt. Wenn wir anfangen, Dinge zu vermeiden oder uns selbst zu betrügen. Wenn wir uns fixieren und nur noch an den Magen, den Darm, den Bauch, das Ziehen und das Essen denken – und auch das gar nicht mehr hilft.
Was hilft? Behandlung von Leib und Seele
Alarmierend ist: Die psychosomatischen Erkrankungen werden wie alle psychischen Erkrankungen immer häufiger. In der ersten Jahreshälfte 2014 waren laut DAK-Gesundheitsreport die psychischen Erkrankungen mit 16 Prozent die zweithäufigste Ursache für Krankschreibungen. Das habe aber auch eine gute Seite, sagt Martina de Zwaan:
Heute sind unsere Hausärzte besser ausgebildet, überweisen viel schneller in die Psychosomatik oder raten zur Psychotherapie.
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Schon Sokrates wusste: "Leidet der Leib, muss die Seele mitbehandelt werden." Doch auch wenn das Wissen um die ganzheitlichen Zusammenhänge zwischen Seele und Körper so alt ist wie die Medizingeschichte, ist die Psychosomatische Medizin ein noch recht junges Fachgebiet: Sie wurde erst 1992 vom Deutschen Ärtzetag offiziell eingeführt, 2003 erfolgte die Umbenennung in Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Mittlerweile gibt es in Deutschland mehr als 4600 Fachärzte, 21 spezialisierte Universitätsabteilungen sowie eine große Anzahl von stationären und tagesklinischen Behandlungsplätzen.
Die kranke Seele – ein Ergebnis des Zeitgeistes
Der Anstieg der Erkrankungen habe natürlich auch mit dem Zeitgeist zu tun, sagt de Zwaan. "Wir müssen am Arbeitsplatz gut funktionieren, möglichst immer. Kaum eine Abteilung kann sich Mitarbeiter leisten, die häufig krank sind. Auch ich als Chefin muss da leider manchmal unerbittlich sein." Die häufigste psychosomatische Baucherkrankung ist das sogenannte Reizdarmsyndrom (RDS): 16 Prozent aller Frauen und acht Prozent der Männer leiden daran. Medizinisch betrachtet
gehört RDS in die Gruppe der somatoformen Störungen. Das heißt, es ist kein organischer Befund nachweisbar, Untersuchungen wie Bauchspiegelungen, Ultraschall oder Allergietests ergeben keine Auffälligkeiten. Das Reizdarmsyndrom ist ungefährlich, beeinträchtigt das Leben aber ungemein.
Den einen Patienten plagen Schmerzen, den nächsten Durchfälle, ein anderer leidet wiederum an Verstopfungen.
Unser Bauch reagiert schon,während wir noch gar nicht wissen worauf
Nur eins eint alle Betroffenen: Psychische Faktoren spielen bei Entstehung und Verlauf ihrer Krankheit eine große Rolle. Auch Störungen des Essverhaltens gehören zu den häufigen psychosomatischen Krankheitsbildern. Und auch hier sind die Übergänge fließend: Jeder kennt die Momente, in denen gutes Essen, größere Mengen Schokolade oder schöner Wein über schwierige Phasen hinwegtrösten können – ein Verhalten, das irgendwann auch auf der Waage sichtbar wird. "Das darf mal sein", sagt Martina de Zwaan. Und sogar das Gegenteil, der "psychogene Appetitverlust", wie sie es nennt, sei gelegentlich völlig normal. Selbst größere Gewichtsunterschiede findet die Professorin nicht besorgniserregend: "Wenn es der oder dem Betreffenden gut geht, darf man schon mal viel ab- oder zunehmen." Wer aber einen Body-Mass-Index unter 17 habe, sei auch seelisch nicht gesund. Nach oben hin ist Martina de Zwaan nicht ganz so streng: "Ein BMI über 30 ist auch nicht gesund, aber nicht jeder Dicke ist seelisch krank."
Esstörungen und Psyche
Schwerwiegende Essstörungen wie Anorexie, Bulimie und die Binge-Eating-Störung, also Fressanfälle, erfordern hingegen eine langwierige, meist stationäre Behandlung. Aus dem Klinikalltag weiß Professorin de Zwaan, dass es den typischen psychosomatischen Patienten nicht gibt. Sie erzählt von denen, die schon bei zig Fachärzten waren und gar nicht auf die Idee kommen wollen, dass hinter den Bauchschmerzen etwas Seelisches steckt: "Manche empfinden das immer noch als eigenes Versagen." Andere Menschen fürchten sich wiederum vor einer schweren körperlichen Krankheit und glauben deshalb lieber an seelische Ursachen: "Da müssen wir erst mal anfangen medizinisch abzuklären und die Patienten körperlich zu untersuchen."
Die Suche nach den verborgenen Gründen
In der Psychotherapie, die Teil jeder psychosomatischen Behandlung ist, begegnen ihr diese unterschiedlichen Verhaltensmustern dann wieder: Da gibt es die, die zu sehr in sich hineinhorchen und irgendwann nicht mehr aus sich herausfinden: "Diese Menschen müssen wir rausholen aus ihrer hypersensiblen Körperwahrnehmung. Und vorsichtig umlenken auf die Frage, ob es vielleicht
andere Belastungsfaktoren gibt."
Der häufigste Auslöser für Stress seien nicht unbedingt die vielen Termine im Kalender, sondern Aggressionen:
Wenn ich einen Chef habe, mit dem ich nicht zurechtkomme und der mich wütend macht, dem ich diese Wut aber nicht zeigen darf – das ist chronischer Stress. So was geht in den Magen.
Martina de ZwaanTweet
Dann gibt es Patienten, die scheinbar locker von einer 80-Stunden-Woche berichten, von Mahlzeiten im Auto, wenig Schlaf und viel Kaffee, von der todkranken Mutter. Und die sich dennoch nicht vorstellen können, warum ihr Körper streikt: "Die müssen erst einmal lernen, die Stressfaktoren zu würdigen." Im Umfeld der Patienten gibt es oft Menschen, die die Erkrankung abtun, nach dem Motto: "Das ist doch nur psychosomatisch!" Ein Verhalten, das Martina de Zwaan ärgert: "Das heißt ja nicht, dass man es nicht behandeln muss. Es ist natürlich erfreulich, wenn die Ursache kein Darmkrebs ist, aber eine psychosomatische Erkrankung ist oft langwieriger, weil die Suche nach den seelischen Ursachen dauern kann." Und zwar im Schnitt etwa ein bis zwei Jahre. Die Ursachen sind individuell und damit zahlreich: ein Unfall oder der Verlust eines Menschen, Fehlgeburten, zerbrochene Beziehungen. Aber auch alte Schuldgefühle, Ängste oder verdrängte Belastungen.
Die Gründe können für uns also erst einmal verborgen sein, während unser Bauch schon längst reagiert. Trotzdem kann jeder etwas tun, damit sich aus der Reizung nicht eine chronische psychosomatische Störung entwickelt. Wenn der Bauch immer wieder wehtut, ist es sinnvoll, sich Zeit für ihn zu nehmen. Zum Beispiel mit einer Wärmflasche auf dem Sofa, um in sich hineinzuhören: Was beklemmt mich? Seit wann habe ich das? Wenn man mit der Selbstreflexion nicht weiterkommt, können Gespräche mit Partner, Familie oder Freunden helfen. Wer sich selbst gut kennt und weiß, dass er bei Stress schlecht abschalten kann, kann auch eine Entspannungsmethode wie Autogenes Training erlernen. "Wenn es sich aber so nicht lösen lässt," sagt Martina de Zwaan, "dann ist es auch eine gesunde Einsicht, dass man professionelle Hilfe braucht."
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