Die Designerin Helen von Albertini verbindet rustikales Flair mit mondäner Geste. Ihre Handschuh-Manufaktur befindet sich in einem ehemaligen Stall, ihre Inspirationsquellen reichen von Nietzsche über New York bis zu Spuren im Schnee.
Schöne, historische Häuser säumen den Weg und nur das Plätschern eines Brunnens füllt die Stille ganz leise aus. Ardez gehört noch zu den Dörfern im Unterengadin, die sich weit weg vom Getümmel in St. Moritz ihre Authentizität bewahrt haben. Hier in dieser Idylle, fünf Minuten Fussmarsch von der Haltestelle der Rhätischen Bahn entfernt, steht Helen von Albertinis Wohnhaus, das gleichzeitig auch ihre Handschuh-Manufaktur beherbergt. Am hölzernen Gartentürchen, das beim Öffnen ein bisschen knarzt, wachsen Sanddornsträucher, an deren Ästen orangerote Früchte leuchten. Kaum betritt man den Vorplatz des alten Gebäudes, ist es vorbei mit der Stille. Zwei Hunde stürzen aus der Haustür und begrüssen den Besucher mit lautem Gebell. Die kleine, lebendige Rosa, ein Mischling, und der riesige, äusserst gutmütige, irische Wolfshund Joyce sind im wahrsten Sinne des Wortes ein umwerfendes Gespann.
Angenehmes Chaos, freie Gedanken und ungebändigte Kreativität
Früher war dieses Haus nur Helen von Albertinis Feriendomizil. Doch vor drei Jahren zog die Modedesignerin ganz hierher. Sie hatte genug von dem Stress in Zürich, davon, dass immer alles so schnell gehen sollte, dass zum Beispiel schon im September alle Modelle für den Winter präsentiert werden mussten. Seit sie sich an dieses idyllische Fleckchen Erde zurückgezogen hat, nimmt sie sich die Zeit, die sie braucht. Und entwirft Handschuhe und Schals dann, wenn die Ideen reif dazu sind. Manchmal ist das eben nicht schon im September, wenn die großen Modehäuser bereits ihre Winterkollektionen in den Schaufenstern haben, sondern vielleicht erst im November.
Helen hat dunkelblonde, leicht grau melierte Haare, ihre Augen leuchten blau. Sie wirkt offen, lebhaft und warmherzig. Ihr Kleidungsstil zeugt von einem ganz besonderen Gefühl für Farbe, Muster und Materialien. Die Art, wie sie das alles kombiniert ist elegant und eigenwillig zugleich. Weiche Kaschmir-Pullover und bunte Schals, die sie selbst entworfen hat, gehören zu ihrer Basis Garderobe. Dazu trägt sie antiken Schmuck. Die Designerin öffnet die Tür zum ehemaligen Stall, in dem sich nun Werkstatt und Verkaufsbereich befinden. Fast alle Modelle stammen aus Helens eigener Kollektion, ihr Label trägt den Namen "Una". An den alten Holzbalken sind rund 50 Handschuhe befestigt: aus Wolle, Leder oder Seide, bestickt oder mit ausgestanzten Motiven verziert, in unterschied- lichen Längen, manche reichen bis zum Ellbogen. Auf Regalen stapeln sich bunte Foulards und Schals. Ein Farben- und Designspiel, das verzaubert.
Dressiereisen in Futterkrippen
Hinter dem Laden liegt die Manufaktur. Hier herrscht kreatives Chaos. Vier alte Porkert-Nähmaschinen bilden den Mittelpunkt des Raums. In den früheren Futterkrippen befinden sich die Dressiereisen, die die fertigen Handschuhe in Form halten. Am Boden liegen Lederreste und auf den Tischen stehen Kisten mit Modellen, die auf ihre letzten Verzierungen warten. Hauptthema der aktuellen Kollektion: das Engadin. Einige der handgemachten Details erinnern in sehr reduzierter Weise an rustikale Muster, andere an Spuren im Schnee. "Es geht immer um das Zusammenspiel von Poesie, Farbe, perfekter Passform und kostbarem Material", sagt Helen, manchmal sei das ein richtiger Seiltanz. Seit zwölf Jahren hat sich Helen dem Handschuhdesign verschrieben. Sie war eine der Ersten, die wieder auf das fast vergessene Accessoire setzten. Denn für sie ist es mehr als Mode, "es ist ein sinnliches Schmuckstück, in das man sich verlieben kann".
In einem Nebenraum befindet sich Helen von Albertinis Stofflager mit lauter Textilien, die sich während der letzten 30 Jahre angesammelt haben. Eine berauschende und immer wieder inspirierende Farbenwelt. Auf dem Tisch liegen bunte Ripsbänder, Hirsch-, Rentier-, Lamm- und Ziegenleder. Zudem lagern hier Seidenstoffe für die neue Foulardkollektion, bereit, zugeschnitten zu werden. "Bei den Designs für die Tücher nehme ich mir die totale Freiheit", sagt Helen und verwebt persönliche Geschichten und Erlebnisse zu kleinen Kunstwerken.
Immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen
Via Computerdruck printet sie unterschiedliche Motive auf den Stoff. So verschmilzt das Foto eines Blitzes, das Tochter Greta während eines Flugs von New York nach Zürich aufgenommen hat, mit einem Bild des Kirchturmes von Samedan und dem schönen Sujet eines Nietzsche-Buchdeckels. Zum Schluss gilt es dann noch, die Foulards zu rollieren: Die Ränder der Seide werden leicht eingerollt und von Hand angenäht. Immer wieder sucht die Modedesignerin neue Herausforderungen.
Nichts wirkt gekünstelt
Vor einigen Jahren schuf Helen von Albertini zum Beispiel für die Zürcher Ausstellung "Liebeskunst, Liebeslust und Liebesleid in der Weltkunst" eine Handschuh- und Foulardskollektion mit den Motiven von indischen und japanischen Meisterwerken. Sie liebt es, sich von anderen Kulturen inspirieren zu lassen. Seit zwei Jahren arbeitet sie regelmässig mit Banwo Marafa zusammen, einem Nomaden aus dem Niger, mit dem sie Handschuhe kreiert. Die Verkäufe in der Schweiz sichern die Existenz von Banwo Marafas Grossfamilie in der Heimat. So vielseitig wie Helens Modewelt ist auch ihr Haus jenseits der Werkstatt. Seine Wurzeln reichen bis ins 16. Jahrhundert und die Art, wie es eingerichtet ist, passt perfekt zu der Designerin. In jedem Raum, in jeder Ecke gibt es etwas zu entdecken: wertvolle Stoffe, Kunst und alte Möbel. Alle Arrangements scheinen wie zufällig entstanden, nichts wirkt gekünstelt oder nach einem Schema gestylt.
Tausend spannende Ideen
Sehr liebenswert, aber auch etwas chaotisch bestimmt die Künstlerin das Geschehen. Lebhaft erzählt sie, woher das Bild über dem Sofa ist, aus welchem Urlaub die Souvenirs in der Küche stammen. Und ganz nebenbei bucht sie noch schnell mal einen Flug für den nächsten Tag nach Madrid. Ihre Tochter Greta möchte dort die Universität für Kunst und Modedesign begutachten. Auch Sohn Gion Balthasar hat eine kreative Ader, er studiert Architektur an der Botta-Universität in Mendrisio. Wie die Designerin Kreativität, Business und Familie unter einen Hut bringt, ist eine Meisterleistung. Aber all das reicht Helen von Albertini noch nicht. In ihrem Kopf stecken noch tausend andere spannende Ideen.
Wie um das zu beweisen, öffnet sie eine weitere Tür des alten Hauses. Und unverhofft steht man in einem riesigen Prachtraum. Ein gigantischer Holztisch mit Kandelabern dominiert die Szenerie. Ein altes Buffet mit Spiegel, ein Klavier, eine hölzerne Leiter, die mit Textilien behängt ist, und andere Objekte wie eine alte senfgelbe Waage runden das Ambiente ab. "Hier möchte ich Events veranstalten, Ausstellungen machen, aber auch einfach mit Freunden zusammensitzen", sagt Helen. Sie öffnet eine Flasche italienischen Rotwein, stellt zwei Gläser auf den Tisch, ein Stück frischen Geisskäse aus dem Nachbardorf, gibt Olivenöl in ein Tellerchen und schneidet ein paar Stück Brot ab: willkommen im Reich kreativer Sinnlichkeit.