Es gibt Grundsätze, die klingen sinnvoll. Dabei hat man sich nur an sie gewöhnt. Und wenn sich die Freundin unserer Kolumnistin an eins nicht gewöhnen will, dann ist das ein Leben ohne Lust.
Was haben die Rolling Stones, mein alter Lehrer aus der Journalistenschule Wolf Schneider und meine Freundin C. gemeinsam? Sie hören einfach nicht auf mit dem, was ihnen Spaß macht, obwohl sie weiß Gott nicht mehr die Jüngsten sind. Faltige Rockstars in den Siebzigern, die "I can’t get no satisfaction" singen? Ein Buchautor, der gerade 90 geworden ist? Irgendwie geil, finden wir.
Aber was ist mit einer Singlefrau, die kurz vor ihrem 60. Geburtstag noch Sex will? Und zwar nicht diskret mit ihrem Vibrator, sondern mit einem 45-Jährigen, auf den sie schon lange Lust hat. Irgendwie peinlich, oder?
"Du hast WAS?", rief ich entgeistert, als C. mir von einem schönen Abend mit ihrem Nachbarn erzählte. "Er wollte sich verabschieden, da hab ich ihn einfach gefragt: 'Noch Lust auf einen Kaffee? Ich hätte nämlich noch Lust auf einen Orgasmus.'" Ich gestehe an dieser Stelle offen, dass ich so unverblümt zugegebene erotische Bedürftigkeit etwas unangebracht fand. Wenn der Nachbar sie voller Leidenschaft auf seinen Küchentisch geworfen und dort vernascht hätte – wunderbar! Neid! Oder wenn er 70, 75 gewesen wäre und vorher noch schnell eine Viagra eingeworfen hätte, auch akzeptabel. Aber postmenopausal einen 15 Jahre jüngeren Mann zum Geschlechtsverkehr bitten?
Warum aufhören?
Doch was ist eigentlich dabei? Wer legt fest, wann in unserem Leben was zu Ende ist? Das Auf-der-Bühne-Herumhampeln, das Schreiben, der Sex? Aufhören wenn es am schönsten ist, wird immer verlangt, abtreten, in Würde älter werden – aber warum? Warum auf etwas verzichten, das uns noch Freude bereitet? Ist es nicht viel besser, aufzuhören, wenn es nicht mehr so schön ist und uns deshalb das Aufgeben leichter fällt? So wie mit dem Rauchen, wenn man im 5. Stock ohne Fahrstuhl wohnt und keine Lust mehr auf die Hochkeucherei hat.
Meine Freundin C. hat sexuell schon immer wie ein Mann gelebt. Wenn sie Lust hatte, fragte sie, wenn die Lust vorbei war, ging sie. Eine Haltung, um die ich sie beneidet habe. Dieses "Eine Frau muss sich rar machen"-Prinzip, das meine Mutter mir noch eingebläut hat, ist doch Schnee von vorgestern.
Natürlich gibt es Dinge, auf die eine ältere Frau verzichten sollte – zu kurze Röcke, zu tiefe Ausschnitte, die Liebhaber ihrer Tochter. Aber einer 60-Jährigen, die Lust auf Sex hat, laufen die Männer nicht nach, die muss aktiv werden. Das ist eine Tatsache, die auch wir Frauen akzeptiert haben. Wer hat denn bei "Pretty Woman" sehnsüchtig geseufzt, dem Klassiker aller „Reicher Silberfuchs führt zartes Junghuhn auf sein Zauberschloss“- Kitschfilme? Doch nicht die Männer. Wir gucken immer noch jede TV- Wiederholung. Und genau deshalb ist meine Freundin C. ein Vorbild und keine Peinlichkeit. Der Nachbar hat übrigens sehr freundlich abgelehnt, was C. ihm nicht übel genommen hat. Es hätte schlimmer kommen können.
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Evelyn Holst ist Expertin für Klartext. Und für Humor (hat viel davon), Familie (hat selbst eine) und Frauen (ist ja eine). Ihr Lebensmotto: Es gibt keinen Grund zum Jammern. Es sei denn...