Natürlich möchte unsere Kolumnistin keine Stock schwingende Greisin werden, die über alles und jeden meckert. Aber wo ist die Grenze zwischen Zickigkeit und Zivilcourage?
Ein volles Zugabteil, Hühnerkäfiggefühl. Die meisten Reisenden sind in ihre Laptop-Bildschirme vertieft, es herrscht schläfrige Ruhe. Nur hinten in der letzten Reihe sitzt einer dieser Kreativtypen. Kennzeichen: Anzug eng wie eine Wurstpelle, Nerdbrille, Aftershave, das sich als Dunstglocke übers gesamte Abteil legt, und eine laute Stimme, mit der er in sein Smartphone so spannende Dinge trompetet wie: "Klappe zu, Affe tot, da kenn ich keine Verwandten, aber bring das mal den Russen bei." Die genervten Blicke seiner Nachbarn ignoriert er. Bis endlich, endlich eine Frau zu ihm geht und sagt: "Es nervt, junger Mann, telefonieren Sie doch bitte auf dem Gang weiter!"
Allgemeines Aufseufzen. In solchen Situationen stelle ich mir immer die Frage: Warum sind die meisten von uns so feige? Und scheuen vor einer Konfrontation zurück wie der Vampir vor der Knoblauchzwiebel? Obwohl oder gerade, wenn sie total im Recht sind? Ich beobachte das überall, es ist immer dasselbe. An der Käsetheke, wenn eine Kundin alle Sorten durchprobiert und ihr die immer länger werdende Schlange völlig egal ist. Auf dem Spielplatz, wenn eine dieser "Mein Kind ist geiler als dein Kind"-Supermamis von den Chinesisch-Stunden ihres Dreijährigen erzählt. Oder in der Stadt, wenn ein Schnösel seinen SUV im absoluten Halteverbot parkt und dann lässig die Warnblinkanlage anstellt. Wir ärgern uns, aber wir sagen nichts. Weil wir keine Lust auf laute Worte und böse Blicke haben oder weil unser Bauchgefühl nicht eindeutig ist. Doch ist es wirklich cooler, in der U-Bahn so zu tun, als hörten wir die pöbelnden Jugendlichen nicht, weil wir früher schließlich auch keine Chorschwestern waren und wir außerdem wissen, dass sich Pubertätsverhalten irgendwann auswächst?
Unsere Hasenherzigkeit hält uns davon ab, mutig zu sein
Wo ist die Grenze zwischen Zickigkeit und Zivilcourage? Wir regen uns auf, dass niemand eingreift, wenn Menschen in aller Öffentlichkeit verprügelt werden. Falls es sich bei den Schlägern allerdings um eine Horde betrunkener, mit Messern bewaffneter Neonazis handelt und man um sein Leben fürchten muss, verstehe ich das. Doch meist ist es ja diese vorauseilende Hasenherzigkeit, die uns auch in weit weniger gefährlichen Situationen davon abhält, klare Worte zu sagen, den Rücken gerade zu machen, ein bisschen mutig zu sein.
Natürlich will ich keine dieser Stock schwingenden Greisinnen werden, die keiner mehr lieb hat, weil sie bei jedem Kinderlärm gleich die Polizei rufen. Aber ich bin ein bisschen stolz, dass ich einmal einen Mann vom Fahrrad gerissen habe, nachdem er mit umwickelter Faust gerade die Seitenscheibe eines Autos eingedrückt hatte. Die Scheibe war zwar kaputt, aber der Laptop, den er klauen wollte, lag noch auf dem Beifahrersitz. "Ganz schön mutig, junge Frau", lobte mich damals der Polizist, aber das war ich gar nicht. Nur so wütend, dass ich gar nicht lange nachgedacht hatte. Wir sollten öfter mal so wütend sein, dass keine Zeit für Angst bleibt. Damit es nicht schlimmer kommt.
Evelyn Holst hält Ausschau. Hinter dem Fenster ihrer Hamburger Wohnung. Und natürlich vor der Haustür. Immer wieder stellt sie fest: Es gibt keinen Grund zum Jammern. Es sei denn …