Lächeln und Interesse vortäuschen – das Spiel beherrscht unsere Kolumnistin perfekt. Dabei hätte sie Lust auf eine satte Portion Ehrlichkeit.
"Na, wie geht's?", fragt meine Nachbarin. Ich habe Kopfschmerzen, ein Auftrag ist geplatzt, Waschmaschine und Kühlschrank haben gleichzeitig ihren Geist aufgegeben und mein Mann und ich uns so gezofft, dass ich erwäge, die Scheidung einzureichen. "Sehr gut", antworte ich, "und selbst?" – "Könnte nicht besser sein", strahlt sie und ist vermutlich auf dem Weg zu einer Zahnwurzelbehandlung ohne Betäubung, weil sie eine Betäubungsmittelallergie hat.
Ich hasse Small Talk. Er ist so verlogen. Auf Partys zum Beispiel, bei denen man niemanden kennt. Man steht sich gegenüber, wird sich vermutlich nie wiedersehen, aber man fragt: "Und, was machen Sie so beruflich?" Ich beherrsche sie berufsbedingt, die weit aufgerissenen, interessierten Augen, wenn mein Gegenüber antwortet: "Ich bin beim Liegenschaftsamt." Ich frage dann Sachen wie: "Was genau machen Sie denn da?" und sage: "Das klingt ja superkompliziert!" Wenn ich dagegen sage: "Ich bin Journalistin" und mein Gesprächspartner ist ein Mann, erwidert er garantiert gelangweilt: "Ah ja? Wo könnte ich Sie denn gelesen haben?" Und während ich "Arschloch" denke und er "Wo gibt's hier ein kaltes Bier?", lächeln wir uns an.
Ein Mann, und hier gibt es nur ganz wenige Ausnahmen, kann den ganzen Abend über sich reden und der Frau, die kurz davor steht, aus Langeweile ins Koma zu fallen, nicht eine einzige Frage stellen. Es sei denn, sie sind im Fernsehen und die Frau ist Talkshowgast. Nur ein einziges Mal, bevor ich sterbe, möchte ich erleben, dass in einer Talkshow nicht "Und wie vereinbaren Sie
als beliebteste Schauspielerin Deutschlands Ihre 20 Kinder und Ihr Engagement als Schirmherrin ausgesetzter Pinguine?" gefragt wird. Sondern: "Ihr Mann betrügt Sie, Ihr Sohn ist drogenabhängig und wie man sieht, haben Sie gerade ein missglücktes Facelift hinter sich. Wie geht es Ihnen?"
Warum täuschen wir Coolness vor, wenn wir uns wie arme Würstchen fühlen?
Würde es uns bei Joschka Fischer nicht viel mehr interessieren, wie er es trotz Leibesfülle und Muffelmiene schafft, immer so hübsche Frauen zu kriegen? Fragt ihn natürlich niemand. Genausowenig wie Silvana Koch-Merin,wie sie, die Erfolgsfrau, sich fühlte, als sie ihre Dissertation zurückgeben musste. Ich halte das für einen Fehler, weil ich glaube, dass gerade Promis kein Zacken aus der Krone bricht, wenn sie Schwächen und Fehler einfach mal zugeben. "Ja, ich habe Gelder veruntreut." "Ja, ich habe meine Frau betrogen." Das gilt auch für uns Unpromis. Warum täuschen wir Coolness und ein "Alles perfekt" vor, wenn wir uns in Wahrheit wie ein kleines, armes Würstchen fühlen? Sylvie van der Vaart hat doch vorgemacht, wie befreiend es sein kann, wenn man im Unglück nicht allein ist.
Kürzlich saß mir im Zug eine Frau gegenüber, die offensichtlich geweint hatte. Ignorieren oder konfrontieren? "Ist was Schlimmes passiert?", fragte ich. Sie zögerte, denn wir waren ja Fremde. "Ich habe meinen Mann verlassen", sagte sie dann, "weil ich mich in eine Frau verliebt habe. Meine Kinder wollen bei ihm bleiben, alle Freunde verurteilen mich." Nach drei Stunden stieg sie aus. "Das hat mir gutgetan", sagte sie zum Abschied. Mir auch. Weil ich richtig froh über mein langweiliges Leben war. Mein Mann nicht schwul, ich auch nicht. Es hätte schlimmer kommen können.
Evelyn Holst ist Expertin für Klartext. Und für Humor (hat viel davon), Familie (hat selbst eine), Frauen (ist ja eine).