Die erste große Liebe unserer Kolumnistin trug Zahnklammer und saß neben ihr auf der Schulbank. Seither hat sie viel Ernüchterndes über die Liebe dazugelernt. Trotzdem: Der Zauber ist geblieben.
Als ich vor vielen Jahren eingeschult wurde, saß Joachim Kruse neben mir. In der Pause nahm er seine rosa Zahnspange aus dem Mund und legte sie unter sein Pult, da lagen auch unsere Schulbrote. Wir waren beide klein, etwas zu dick und beim Völkerball immer die Letzten, die gewählt wurden. Das schweißt zusammen. Joachim war meine erste große Liebe. Und dann kam Christine in unsere Klasse, ein bildhübsches Schneewittchen, das es faustdick hinter den Ohren hatte. Joachim ließ mich fallen wie eine heiße Kartoffel und wurde ihr kleiner Sklave.
Das gnadenlose Herz
Ich wusste damals nicht, dass das rabenschwarze Gefühl, das ich hatte, wenn ich die beiden auf dem Schulhof beobachtete, mein allererster Liebeskummer war. Und das weiterer folgen würde. Bei mir und bei den Männern, denen ich das Herz gebrochen hatte. Wie das eines gewissen Jürgen, mit dem ich Geschichte studierte. Er konnte ganz wunderbar küssen, aber das konnten andere auch. Wenn man jung, unsterblich und der Horizont grenzenlos ist, kann das Herz manchmal gnadenlos sein. Das erlebe ich gerade bei meinen Kindern. Einem 20-jährigen Sohn, der nach dem Motto "Bruder geht vor Luder" lebt, weil ihm junge Mädchen mit ihren Beziehungsansprüchen viel zu anstrengend sind. Und einer 25-jährigen bildhübschen Tochter, die es völlig selbstverständlich findet, dass Männern bei ihrem Anblick der Verstand in die Hose rutscht.
"Muss ich mir diesen Vornamen merken?"
Liebe? Die kommt und geht bei den beiden so schnell, dass mein Mutterherz nicht hinterherkommt. Kaum kennengelernt, ist auch schon wieder Schluss. So war ich auch einmal. "Muss ich mir diesen Vornamen merken?", fragte meine Mutter erschöpft, als ich ihr innerhalb von sechs Monaten den dritten neuen Typenpräsentierte. Liebe in jungen Jahren ist eine Hormonfrage, später sorgen Ehe, Kinder und Alltag für Ruhe im Karton. Manchmal fühlt die sich dann wie Friedhofsruhe an. "Die meisten Menschen brauchen mehr Liebe, als sie verdienen", schrieb die Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach. Die wenigsten werden bei den Worten"Bis dass der Tod euch scheidet" an die treuen Eheleute Philemon und Baucis denken, denen die Götter den Wunsch gewährten, gleichzeitig sterben zu dürfen, sondern eher an den Tod der Liebe durch Unlust.
Liebe hat viele Spielarten
Liebe? Ein Wort mit fünf Buchstaben, das manchmal nur noch im Kreuzworträtsel Sinn macht. Aber zum Glück ist die Liebe ein Chamäleon, das im Laufe unseres Lebens ständig Form und Farbe wechselt. Sie kann sich heiß, kalt oder lauwarm anfühlen. Sie kann sich jahrelang verstecken wie bei meiner Freundin, die mit 44 Jahren eine neue Hüfte bekam und sich in der Rehaklinik in ihren 13 Jahre jüngeren Physiotherapeuten verliebte. Und ganz überraschend wieder auftauchen wie bei einer sehr ehemüden Freundin, die sich ausgerechnet während einer Reifenpanne bei strömendem Regen wieder
in ihren Mann verliebte. "Dieses Ruhige, Kompetente, das fand ich auf einmal wieder unwiderstehlich", sagt sie.
Püppi ist 88 und dement
Liebe? Hört zum Glück nie auf. Meine Nachbarin hat kürzlich ihren demenzkranken Vater schweren Herzens in ein Seniorenheim gebracht. Als sie ihn am nächsten Tag besuchte, hatte er Lippenstiftspuren auf der Wange. "Von Püppi", erklärte er. Püppi ist 88 und ebenfalls dement. Die beiden teilen jetzt ein Zimmer. Es hätte schlimmer kommen können.
Evelyn Holst hält Ausschau. Hinter dem Fenster ihrer Hamburger Wohnung. Und natürlich vor der Haustür. Immer wieder stellt sie fest: Es gibt keinen Grund zum Jammern. Es sei denn …