Schöner, schlauer und immer tiefenentspannt – unserer Kolumnistin geht es auf die Nerven, dass "besser" offenbar das neue "gut" ist. Manchmal möchte sie sich einfach schlecht fühlen dürfen, um sich dann bei einem Bad in Selbstmitleid von der Welt zu erholen
Es gibt einen Satz, bei dem jedes Mal mein Adrenalinspiegel sprunghaft in die Höhe schnellt und der heißt: "Na, du jammerst ja mal wieder auf ganz hohem Niveau!" Egal, worüber ich mich gerade beschwert habe, über eine saftige Mieterhöhung, eine von meinen Sohn verursachte Kotflügelbeule, ein teures Zahnimplantat, das beim unvorsichtigen Biss in ein Fischbrötchen im Rollmops stecken geblieben ist, ein fieser Wasserschaden – fast immer höre ich diesen blöden Satz.
Kleine Ausraster bauen Stress ab
Dann ärgere ich mich und komme mir gleichzeitig wie eine verwöhnte, anspruchsvolle Unternehmergattin vor, eine Prinzessin, die über eine winzige Erbse unter ihrer dicken Schaumstoffmatratze jault, während andere Menschen richtige Probleme haben. Was die Sache noch ärgerlicher macht, ist das penetrant Gutmenschliche, Moralinsaure an diesem Satz. Die Verdrängung der simplen Tatsache, dass Jammern einfach wichtig ist, wenn einem das Leben Stolpersteine zwischen die Beine wirft, auch wenn es nicht um Leben und Tod geht.
Sich gelegentlich von ganzem Herzen aufzuregen, baut Stress nicht zusätzlich auf, sondern ab. Einmal ganz laut: "Scheiße, ich bin gerade so was von genervt", in die Welt zu brüllen, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, oder je nach Temperament einfach nur eine Runde ins Taschentuch zu schluchzen und sich so richtig von Herzen leid zu tun. Als wäre unsere Seele ein zu prall aufgepumpter Reifen, aus dem man – pfffft – etwas Druck herauslässt.
Gutmenschen sind langweilig
Leider ist einfach mal eine Runde Jammern, egal auf welchem Niveau, in Zeiten, wo sich die Menschheit ständig selbstoptimiert, nicht mehr gesellschaftsfähig. Jedenfalls nicht, wenn man nicht mindestens gleichzeitig seinen Job, sein Haus und seinen Mann verloren hat und mit einem pestbeuligen Gesamtkörperausschlag im Regen auf der Straße steht. Gutmenschen, die nie jammern, sind im Allgemeinen auch spaßbefreit, was Klatsch und Tratsch angeht. "Man muss immer beide Seiten sehen", sagen sie todernst, wenn ihr mittelalter Nachbar seine gleichaltrige Frau mit einer 20jährigen Ukrainerin betrügt. Oder wenn eine gemeinsame Bekannte beim Kaufhausdiebstahl erwischt wurde.
Tröste mich
Dabei sind Jammern und Klatschen menschliche Grundbedürfnisse. Und ich bin überzeugt, wer sie sich und an deren verweigert, der kommt vielleicht in den Himmel, gehört aber im Hier und Jetzt zu den Dinnergästen, neben denen keiner sitzen will. Weil sie nämlich so langweilig sind, dass es quietscht.
Wenn es mir emotional, gesundheitlich oder finanziell schlecht geht, will ich von guten Freunden wirklich nur eins hören: "Mensch Eli, du hast es im Moment echt nicht leicht, Hühnersuppe oder doppelter Cognac?" Ich will getröstet werden, während ich in Selbstmitleid bade.
Ach, und es gibt noch einen Satz, den ich dann auf keinen Fall hören will: Es hätte schlimmer kommen können.
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Evelyn Holst ist Expertin für Klartext. Und für Humor (hat viel davon), Familie (hat selbst eine) und Frauen (ist ja eine). Ihr Lebensmotto: Es gibt keinen Grund zum Jammern. Es sei denn...