Biologielehrerin Inge ist Darwinistin. Doch Vorpommern gehen die Kinder aus und sie selbst befindet sich im
Stadium des "postreproduktiven Überlebens". Selten las sich Tristesse so vergnüglich.
Ausgewählt vom Netzwerk BücherFrauen, diesmal von Lektorin und Herausgeberin Christine Gräbe.
Judith Schalansky "Der Hals der Giraffe" (Suhrkamp Verlag):
Der neueste Coup der Judith Schalansky heißt "Der Hals der Giraffe" und kommt als leinengebundener Bildungsroman daher – so verspricht es jedenfalls der Untertitel. Er spielt im deutschen Osten, die Heldin heißt Inge Lohmark, ist von Beruf Biologielehrerin und im Herzen Darwinistin.
Doch alle um sie herum verweigern sich der Natur, niemand setzt mehr Kinder in die Welt. An Tochter Claudia, die vor vielen Jahren nach Amerika ausgewandert ist, kann sie sich kaum noch erinnern, Enkel sind keine zu erwarten. Ganz Vorpommern gehen die Kinder aus, längst schrumpfen die Klassen, die Schule wird bald geschlossen. Und ausgerechnet in dieser Einöde züchtet Ehemann Wolfgang, der zu DDR-Zeiten Kühe besamte, Sträuße.
Kreidelastiger Frontalunterricht
Inge Lohmark selbst befindet sich im letzten Lebensdrittel, dem überflüssigen Stadium des "postreproduktiven Überlebens". Seit 30 ½ Jahren unterrichtet sie streng, kreidelastig und frontal – doch seit Neuestem lässt man sich von den Schülern duzen und macht auf Verständnis. Anbiedernd, ja gefährlich, findet sie, bis die stille Erika in ihre Klasse kommt und die Lohmark'sche Schale Risse zeigt.
Stillstand als evolutionärer Vorteil?
Unerbittlich seziert Judith Schalansky ihre einsame Heldin, mikroskopiert ihre Kränkungen und diagnostiziert misanthropische Verbitterung. Ganz nebenbei frischt sie Schulwissenauf, beispielsweise die Erkenntnis: "Nur was perfekt ist, entwickelt sich nicht weiter". Stillstand als evolutionärer Vorteil? Judith Schalansky gelingt das kleine Wunder, Unterrichtsstoff zum Roman werden zu lassen, und die Evolution zur Metapher für Resignation. Selten las sich beklemmende Tristesse so vergnüglich; die kantige Sprache und die filigranen Illustrationen tun ein Übriges. Wie alle Bücher von Judith Schalansky scheint auch dieses auf den ersten Blick ein wenig abseitig, macht sofort Lust auf mehr und entpuppt sich dann als kostbares Kleinod. Ein herrliches kleines Buch!
Christine Gräbe ist Herausgeberin der edition fünf, arbeitet als freie Lektorin und Werbetexterin für Buchverlage und übersetzt Literatur aus dem Italienischen ins Deutsche. Sie ist zudem im Netzwerk BücherFrauen aktiv. >> Hier geht's zu Christine Gräbes Website
Diese Buch-Tipps entstanden in Kooperation mit den BücherFrauen. Mehr über die "Women in Publishing"