Judith ist zehn, ihr Vater ist strenggläubiger Zeuge Jehova, ihre Mutter hat sie nie kennengelernt. In der Schule wird Judith gemobbt und zu Hause ist sie gefangen in einem Gewirr religiöser Glaubenssätze, die darin gipfeln, dass Harmagedon nah ist, sehr nah.
Ausgewählt vom Netzwerk BücherFrauen, diesmal von Elvira Willems, freie Übersetzerin und Lektorin.
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Judith ist zehn, ihr Vater ist strenggläubiger Zeuge Jehova, ihre Mutter hat sie nie kennengelernt. In der Schule wird Judith gemobbt und zu Hause ist sie gefangen in einem Gewirr religiöser Glaubenssätze, die darin gipfeln, dass Harmagedon nah ist, sehr nah. Wird Judiths wirkliche Welt bestimmt von "notwendigen Dingen" wie Predigten, Bittergemüse, täglicher Bibellektüre und Nachsinnen, setzt sie – mithilfe von Lampenputzern, Abfällen, Dosenringen, Silberpapier, Bindfäden und Watte –ihr "Land der Zierde" dagegen, ihre ureigene Schöpfungsgeschichte. Sie erschafft sich ihre eigene Welt. Und sie spricht mit Gott, der eines Tages tatsächlich antwortet und fortan in einen Dialog mit ihr tritt. Mit Mumm und Phantasie stemmt die Zehnjährige sich gegen den wachsenden Verfolgungswahn ihres Vaters und versucht auch zur wirklichen Welt zu vermitteln. Und dann vollbringt sie das erste einer Reihe von Wundern. Doch von da an geht alles schief und sie vermag die Dinge, die einmal ins Rollen gekommen sind, nicht mehr aufzuhalten.
Erzählt wird das unauffällig und leise, fast beiläufig. Judith nimmt die Dinge, wie sie kommen, erklärt sich das, was geschieht, innerhalb des Systems der Welt, wie sie sie kennt, und sucht sich ihren Weg. Wunderbar, wie die Autorin uns mit hineinnimmt in die Isolation dieses Mädchens, in ihre Deutung der skurrilen Parallelgesellschaft der Strenggläubigen, aus der ganz eigene Welterklärungsmuster erwachsen. Wehmütig und melancholisch liest sich das, zuweilen aber auch zum Schreien komisch und seltsam anrührend. In der stillen Erzählweise liegt schmunzelnde Heiterkeit dicht neben tiefgründiger Philosophie – etwa im Vergleich zwischen Dunkler Materie und einer Pappschachtel, der in dem Satz gipfelt: "Die Innenseite und die Außenseite sehen genau gleich aus, egal wo man steht." Das ist schlicht, klug und berührend und ebenso ironisch und komisch wie ernst, tiefgründig und wahr. Ein ganz und gar wunderbares Buch.
Elvira Willems übersetzt Krimis, historische Romane, Frauenliteratur und Jugendbücher aus dem Englischen. Nach Stationen im Buchhandel, einem MA in Neuerer Deutscher Literaturwissenschaft und Komparatistik, Jobs als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Bibliotheken, zwei Jahren als Geschäftsführerin eines kleinen Verlags und einem Pressejob bei einem Berliner Kleinverlag hat sie in gut fünfzehn Jahren als Freie fast achtzig Bücher übersetzt und unzählige lektoriert. Sie freut sich, dass sie diesen Beruf auf dem Land ausüben kann, wo sie sich das Haus und den großen Garten mit zwei Katzen teilt und mit Leidenschaft ihrem Beruf nachgeht. Sie ist Mitglied im Netzwerk der Bücherfrauen (www.buecherfrauen.de).
Diese Buch-Tipps entstanden in Kooperation mit den BücherFrauen. Mehr über die "Women in Publishing"
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