Ein Altpapierpacker bastelt aus Bergen von Müll sein ganz eigenen Kunstwerke. Die Seele: Bücher die entsorgt wurden.
Ausgewählt vom Netzwerk BücherFrauen, diesmal von der freien Lektorin, Katja Rasmus.
Bohumil Hrabal: "Allzu laute Einsamkeit" (DVA):
Der Altpapierpacker Haňťa erschafft mit jedem Paket ein Kunstwerk - bis er aus dem dreckigen Refugium seiner Keller vertrieben wird. Der schmale Band des großen tschechischen Schriftstellers ist eine surreale Meditation über Rückzug und Tod in der ČSSR.
Seit 35 Jahren arbeitet Haňťa in einer Altpapiersammelstelle, wie übrigens Hrabal selbst in den fünfziger Jahren. Zwischen Schmeißfliegen und Mäusen packt er Pakete für die mechanische Presse und zelebriert die Bestattung all dessen, was ihm in den Keller gerät: Altpapier, Programme, Fahrkarten, Büroabfall, Fleischereipapier - und Bücher. Er fischt sich die Bücher aus dem Morast und berauscht sich an Sätzen, die er auf einer zufällig aufgeschlagenen Seite entdeckt. Jedem Paket verleiht er mit ausgesuchten Büchern eine Seele. Und jeden Abend nimmt er eine Mappe voll geretteter Bücher mit nach Hause, wo sie sich bis zur Decke stapeln, sodass er unter ihrer Last schon ganz klein und krumm geworden ist.
Der Antiheld Haňťa widmet sein Leben der schöpferischen Zerstörung. Als sein Chef ihn aber aus seinem Keller vertreibt und zwei junge Brigadisten für die Arbeit an der Altpapierpresse engagiert, während er selbst fortan weißes Papier verpacken soll, erschafft er sein letztes Paket und sein eigenes Grabkunstwerk. Haňťa, dessen Kopf eine einzige Bibliothek ist, macht sich den Büchern gleich, die niemand lesen soll, wird von der Presse verschlungen und zerquetscht. Jedoch – die Vollendung der Kunst an sich selbst bleibt nur ein Traum.
Hrabals meditativer Monolog, 1976 für den Untergrund geschrieben, ist auch vor dem Hintergrund der Büchervernichtung in der ČSSR zu lesen: 30 Millionen Bücher wurden von 1948 bis 1955 vernichtet, im Zuge der Restalinisierung nach 1968 erhielten mehr als 80 Prozent der tschechischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein Schreibverbot, entsprechend viele Auflagen wurden komplett eingestampft. Bohumil Hrabal starb vor fünf Jahren in Prag.
Katja Rasmus, 37, arbeitet als Lektorin, studierte in Hannover Literaturwissenschaft und Sozialpsychologie und hat in Tschechien, Bosnien-Herzegowina und der Slowakei gearbeitet. Sie ist Mitglied im VFLL (Verband der freien Lektoren und Lektorinnen) und im Netzwerk der Bücherfrauen (www.buecherfrauen.de).
Diese Buch-Tipps entstanden in Kooperation mit den BücherFrauen. Mehr über die "Women in Publishing"