Sie wartet auf ihn. So lange schon, dass ein Wiedersehen nichts wäre als ein schreckliches Glück. Ein brillanter Monolog in einer beeindruckenden Hörbuch-Fassung, interpretiert von Angela Winkler.
Ausgewählt vom Netzwerk BücherFrauen, diesmal von Verlagslektorin und Publizistin, Dr. Susanne Krones.
Herta Müller: "Eine Fliege kommt durch einen halben Wald" (Hörbuch Hamburg):
Eine Frau wartet. Wartet jahrelang vergeblich auf einen Mann, der nicht zurückzukehren scheint aus dem Lager oder aus dem Krieg. Wann hört ein solches Warten auf? Darf der Gedanke überhaupt gedacht werden? Der einzige Satz, der ihr Halt gibt, ist selbst fragil: "Man kann auch leben, ohne sich zu melden." Man kann. Aber wahrscheinlich ist es nicht, dass er zurückkommt. Und selbst wenn – was wäre dann?
Alles ist ein Gegenteil
Längst hat das Warten sie verändert. Wie der Krieg und seine Erlebnisse in Gefangenschaft ihn verändert hat, mag sie sich gar nicht vorstellen: "All die Jahre zwischen uns gelten auch für ihn." Ein Wiedersehen wäre nichts als ein schreckliches Glück, zu groß ist die Angst, zu übermächtig die Gewissheit, dass zwei Fremde einander gegenüberstehen würden. Wie lautet die gute Nachricht, auf die sie wartet? Dass er nach Hause kommt? Oder dass er nachweislich nie mehr nach Hause kommt? Längst haben sich die gute und die schlechte Nachricht verkehrt: "Alles ist ein Gegenteil."
Seinen Tod freilich darf sie sich nicht wünschen, das Tabu umstellt sie von allen Seiten und engt sie bis zur Lebensunfähigkeit ein. Mit der Zeit seiner Abwesenheit wächst ihr irrationales Schuldgefühl: "Ich habe ihm die Jahre gegeben, aber niemals einen Ort." Der Monolog wird zu einer Erzählung ihres Lebens gegen sich selbst, in dem es doch immer die Sprache ist, die Halt gibt.
Neben dieser persönlichen Geschichte eines Paares, das in der Anonymität von sie und er nur schemenhaft erkennbar ist, erzählt Nobelpreisträgerin Herta Müllers in diesem Monolog, der erstmals 1992 in der Zeitschrift Kursbuch erschienen ist, auch eine politische Geschichte von der fatalen Entmündigung der Menschen durch die politische Ideologie. "Wenn die Fahnen wehen, rutscht der Verstand in die Trompete", konstatiert Müller, und findet bewegende Bilder für die heute unvorstellbare Zeit des Hungers und der Entbehrungen, in der „eine warme Kartoffel soviel ist wie ein Handschuh für zwei Hände". Wenn der Hunger weg ist, kommt das Weinen, "es rieb mir die Wangen auf, als wären in den Tränen Steine".
Fotocredit: Heike Bogenberger
Dr. Susanne Krones ist Verlagslektorin, Publizistin und Literaturwissenschaftlerin, lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität und der Universität Regensburg. Sie ist zweite Vorsitzende des Netzwerks BücherFrauen.
Diese Buch-Tipps entstanden in Kooperation mit den BücherFrauen. Mehr über die "Women in Publishing"