Schon als Kind wollte Trudy Lippke ein Buch über ihre Urgrosseltern schreiben, die nach Argentinien ausgewandert sind. Aber erst der Tod des Vaters zeigte ihr, wie wichtig es ist, Geschichten am Leben zu erhalten.
EMOTION: Was bewog Sie, Ihre Familiengeschichte niederzuschreiben?
Trudy Lippke: Ich lebe zwar schon seit 26 Jahren in der Schweiz, bin aber in Buenos Aires aufgewachsen. Ich wollte, dass die zahlreichen Geschichten rund um die Einwanderung meiner Schweizer und deutschen Vorfahren nicht vergessen gehen. Zudem sollten meine drei Kinder ihre Wurzeln kennen. Und schätzen lernen, dass sie hier in Sicherheit aufwachsen dürfen.
Ihre Kindheit war nicht so unbeschwert wie die Ihrer Kinder?
Trudy Lippke: Nein. Ich wurde in eine Militärdiktatur hineingeboren, in ein Land, wo Leute einfach verschwanden und Terroristen mordeten. Wir Kinder durften aus Angst vor Entführungen kaum einen Schritt zu Fuss machen und kein herumliegendes Spielzeug anfassen. Es hätte eine Bombe drin versteckt sein können.
Gibt es auch schöne Erinnerungen an Ihre Kindheit?
Natürlich! Vor allem die Besuche bei meiner Schweizer Großmutter, die ausserhalb von Buenos Aires wohnte. Dort durfte ich draußen spielen und mich um die Hühner, Kaninchen und Schafe kümmern. Bei ihr lernte ich Schweizerisches zu kochen und backen: Knöpfli, Basler Läckerli und Schenkeli. Zudem war ich schon als Kind fasziniert von ihren Erzählungen.
Wann wurde Ihnen klar, dass Sie anfangen mussten zu schreiben?
Als immer mehr Verwandte starben und ich realisierte, dass ihre Erlebnisse mit ihnen sterben. Vor zwölf Jahren erkrankte dann mein Vater an Krebs und verließ uns wenige Monate darauf. Das war sehr schmerzvoll für mich. Durch seinen Tod wurde mir endgültig bewusst, dass ich mein lang gehegtes Vorhaben endlich in die Tat umsetzen musste. Nach dem Tod meiner Grossmutter im Jahr 2006 fand ich bei der Hausräumung viele Dokumente, die meine Geschichte vervollständigten.
Welche Familienepisode hat Sie am meisten beeindruckt?
Die Überfahrt meiner Urgrosseltern mit dem Schiff von Italien nach Argentinien. Sie dauerte mehrere Wochen und war sehr beschwerlich. Ein Mann, so erzählte mir meine Grossmutter, überspielte seine Angst bei stürmischer See mit Lachanfällen. Einmal klammerte er sich dabei an den Türrahmen. Die Türe schlug zu, und er verlor seine Finger. Oder die Sache mit der Suppe, die auf der Reise serviert wurde. Es war immer dieselbe, nur jeden Tag ein bisschen dünner.
Mit 19 Jahren kamen Sie das erste Mal die Schweiz.
Ja, und ich war verblüfft, wie ruhig es hier ist, wie ländlich und sauber die Luft! Auch in den Städten. In Buenos Aires mit seinen 12 Millionen Einwohnern, fährt man stundenlang im Chaos Auto und ist noch immer mittendrin.
Wie erlebten Sie die Menschen?
Ich fühlte mich anfangs etwas unwohl. Viele fragten, ob ich Deutsche sei, weil ich Hochdeutsch sprach. Sie wollten wissen, woher ich komme. In Argentinien hört man diese Frage nie.
Was hat Sie Ihre Familiengeschichte gelehrt?
Ich arbeite in einem Hilfswerk und werde manchmal an den Empfang gerufen, wenn jemand, der nur Spanisch spricht, Hilfe braucht. Ich sehe, dass die Leute verzweifelt sind. Ich wünsche mir, dass wir hier in der sicheren Schweiz immer dran denken, dass manche Menschen, die hierherkommen, traumatisiert sind, weil sie Krieg und Folter erlebt haben.