Wenn sie in 300 Metern Höhe in der Wand hängt, fühlt sie sich vollkommen frei. Nina Caprez ist eine der besten Felskletterinnen der Welt. Ein Gespräch über das Herantasten an Herausforderungen und warum es glücklicher macht, auch im Alltag Abenteuer zu wagen.
Emotion: Frau Caprez, wie sind Sie zum Klettern gekommen?
Nina Caprez: Ich bin schon als Kind überall hochgeklettert. Aber so richtig habe ich es für mich mit 13 in einem Kletterlager entdeckt.
Was fühlen Sie, wenn Sie eine Wand hochsteigen?
Ich bin total im Moment und ganz bei mir. In meinem Kopf ist kein Platz für andere Gedanken. Und ich fühle mich frei. Manchmal, wenn ich 200, 300 Meter weit oben in einer Wand hänge, komme ich mir vor, als wäre ich die Königin der Welt. Ich spüre, was für ein Privileg es ist, hier hochzuklettern.
Eine Klettersucht sozusagen?
Absolut. Klettern ist meine Lebensfreude, meine Passion – und mein Beruf. Am liebsten klettere ich im Sommer. Da bin ich abartig "zwäg". Ich liebe es, wenn es warm und trocken ist. Wenn ich die Grillen zirpen höre und Blumen riechen kann. Dann blühe ich richtig auf.
Im Gespräch mit der "Neuen Zürcher Zeitung" haben Sie gesagt, Frauen seien zu wenig mutig.
Das würde ich heute positiver ausdrücken. Ich möchte Frauen nicht kritisieren, sondern sie ermutigen, aus sich herauszukommen und ein Abenteuer zu wagen. Ich rede jetzt nicht nur vom Klettern. Warum sind wir im Alltag so sehr auf Sicherheit bedacht? Viele Frauen hierzulande – Männer übrigens genauso – sehen kaum noch, wie gut es ihnen geht. Dennoch sind viele unglücklich in ihrem Job und ändern trotzdem nichts.
Was raten Sie ihnen?
Ich möchte sie motivieren und sage: Träumt nicht nur, tut was! Steht auf, sucht nach neuen Lösungen.
Kommt Ihre direkte Art gut an?
Nein, natürlich gibt es Menschen, die das nicht mögen. Aber manchmal spüre ich auch Neid darauf, dass ich offen meine Meinung äussere. Dann heisst es: Die Caprez ist halt noch jung und naiv und hat keine Ahnung vom Leben.
Klettern Sie jeden Tag?
Wenn ich mich unwohl fühle oder die Nacht zu kurz war, klettere ich nicht. Ich brauche mindestens acht Stunden Schlaf. Ich will nichts erzwingen, höre genau auf meinen Körper.
Spüren Sie bereits vor dem Besteigen einer Wand, wie Ihre Form ist?
An besonders guten Tagen spüre ich eine sanfte Nervosität im Magen. Die ist gut. Sie sagt mir: Nina, heute bist du parat, heute willst du eine neue Route bezwingen. Es ist eine Mischung aus Aufgestelltsein, Vorfreude und ein bisschen Stress.
Sind Sie enttäuscht, wenn Sie es nicht ganz nach oben schaffen?
Ich erklimme selten eine Wand beim ersten Mal. Manchmal brauche ich zehn Anläufe, bis ich eine Route wirklich erklimmen kann. Es ist ein langsames Herantasten. Aber je komplizierter der Weg ist, desto grösser ist die Freude über das Erreichte.
Sie klettern immer mit Seil. Wieso?
Weil ich das Leben mag. Und weil Menschen um mich herum sind, die ich liebe.
Sind Sie gläubig?
Nein.
Was gibt Ihnen die Kraft, immer noch schwierigere Wände zu durchsteigen?
Die Natur.
Inwiefern?
Ich spüre, das da etwas ist, das mir hilft und mir sagt, was gut ist und was
nicht. Genauer kann ich diese Kraft nicht definieren.
Das klingt spirituell. Lernt man beim Klettern fürs Leben?
Ja, dass mein Glück nicht davon abhängt, was ich besitze. Ich brauche nicht viel, um glücklich zu sein.
Ist Leidenschaft eine Voraussetzung dafür?
Bei mir gibt es nur ganz oder gar nicht. Interessiert mich eine Sache nicht richtig, bin ich zu faul, um mich damit länger zu beschäftigen.
Nina Caprez, 26, ist im Prättigau aufgewachsen und lebt mit ihrem Freund im französischen Grenoble. Im Mai erscheint das Buch "Erste am Seil – Pionierinnen in Fels und Eis" (Tyrolia), in dem ihr ein ausführliches Porträt gewidmet ist. www.ninacaprez.ch