Als Fundraiserin lernte sie viele ältere Menschen kennen, die ihr Vermögen spenden wollten. Ihr fiel auf, wie reich die Lebensgeschichten dieser Reichen sind und schrieb sie auf.
EMOTION: In Ihrem Buch kommen Menschen zu Wort, die ihr Geld oder einen Teil davon nach ihrem Tod einem Hilfswerk spenden wollen. Wie kamen Sie auf das Thema?
Muriel Bonnardin: Als Fundraiserin bei Greenpeace spreche ich oft mit Privatpersonen, Anwälten oder Bänkern beziehungsweise deren Klienten, die unsere Organisation mit einem Legat berücksichtigen möchten. Sie wollen sich genau informieren und wissen, was mit ihrem Vermögen geschieht. Oft sind diese Gespräche sehr persönlich, die Interessenten erzählen mir ihre Lebensgeschichte – das sind oftmals sehr berührende Schicksale.
Wie kamen Sie darauf, diese Geschichten aufzuschreiben?
Nach einem Gespräch mit einem Anwalt hatte ich einen Aha-Moment: Er beschrieb mir die kurlige Lebensgeschichte seiner verstorbenen Klientin, die aus einer deutschen Brauereifamilie stammte. Sie wanderte in den 1940er-Jahren in die USA aus, wurde mit Kunst reich, erlebte die verheerenden Atomtests in Nevada und zog aus Protest in die Schweiz. Im Alter wohnte sie im Grand Hotel Dolder und später in einer Wohnung, wo sie von einem homosexuellen Künstlerpaar betreut wurde. Ich wollte nicht, dass so spannende Schicksale wie dieses einfach vergessen werden. In den darauf folgenden Gesprächen wurde mir erstmals wirklich bewusst, was für ein Geschenk es ist, dass sich Menschen mir gegenüber sehr schnell öffnen und die vertraulichsten Dinge erzählen.
Gab es eine Geschichte, die Sie ganz besonders berührte?
Jede Lebensgeschichte ist faszinierend. Aber ich konnte leider nicht alle fürs Buch verwenden. Denn es waren Geheimnisse darunter, etwa über die Homosexualität eines Mannes, von der weder Familie noch Berufskollegen wissen. Oder Tabus, wie das der Frau, die von ihrer Mutter geschlagen wurde. Wunderbar fand ich die Geschichte eines alten Mannes, der als Kind nach der Reichspogromnacht mit dem letzten Transport des Roten Kreuzes von Deutschland nach England gerettet wurde. In seinem Testament bedachte er das Schweizerische Rote Kreuz SRK. Ein schönes Zeichen seiner Dankbarkeit!
Haben Sie selbst Ihr Testament schon gemacht?
Selbstverständlich. Ich kann nicht mit Menschen über ihren letzten Willen reden, ohne zu wissen, wie es sich anfühlt, sich mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Abgesehen davon kann mir jederzeit etwas zustossen. Mit einem Testament kann ich selbst bestimmen, was neben dem Pflichtteil mit meinem Besitz geschieht.
Wie fühlt es sich an, wenn man sein Testament schreibt?
Man setzt sich schon ganz intensiv mit sich auseinander. Ich nahm jede Beziehung, jede Freundschaft genau unter die Lupe und fragte mich: Ist sie gut oder nicht? Ich fragte mich, ob ich mein eigenes Leben lebe oder das von anderen. Wer über den Tod nachdenkt, entwickelt ein Bewusstsein für sein Leben.
Was ist Ihnen bewusst geworden?
Als ich festlegen wollte, wer was von mir erhält, wurde mir klar, dass gewisse persönliche Kränkungen grösser waren als angenommen. Das half mir zu verstehen, weshalb Personen ihr Testament immer wieder ändern.
Von Berufs wegen haben Sie oft mit älteren Menschen zu tun. Hatten Sie schon immer einen Draht zur älteren Generation?
Ja. Ich hatte eine sehr enge Bindung zu meiner Grossmutter väterlicherseits und meinem Grossvater mütterlicherseits. Beide bewunderte ich sehr. Meine Grossmutter war eine Selfmadewoman, die im Zweiten Weltkrieg ihren Hof in Frankreich allein führte und
mich handwerkliches Geschick lehrte. Mein Grossvater war Seemann. Ich hing als Kind an seinen Lippen, wenn er von seinen Abenteuern erzählte, ob sie nun wahr waren oder nicht.
Finden Sie ältere Menschen grundsätzlich interessanter?
Natürlich gibt es auch Frustrierte und Verbitterte. Viele blicken jedoch auf ein reiches Leben zurück und sind richtig weise. Mein Mann lacht mich oft aus, wenn wir Tram fahren: Sitzt mir eine ältere Person gegenüber, ergibt sich zwischen uns garantiert ein spannendes Gespräch.
Muriel Bonnardin Wethmar, 47, ist Fundraiserin, Kulturmanagerin und seit 20 Jahren für Greenpeace tätig. "Geld und Herzblut. 16 Menschen und ihr Testament" ist im Kontrast Verlag erschienen.