Trotz ihres internationalen Erfolgs als Trendforscherin studierte Monique R. Siegel mit Ende 60 noch einmal. Weil die engagierte Querdenkerin findet, dass man nie genug wissen kann.
emotion: Sie beraten Unternehmen in Sachen Ethik und Nachhaltigkeit, befassen sich mit Zukunftsfragen, sind Dozentin in zwei eigenen Vorlesungsreihen und haben elf Bücher geschrieben. Wie geht das? Kommen Sie mit vier Stunden Schlaf aus?
Monique R. Siegel: Tatsächlich war das in vielen Jahren meines Lebens der Fall. Kurz vor vier ging der Wecker und kurz danach sass ich vor dem Computer. Inzwischen klingelt der Wecker allerdings später.
Haben Sie mehr Energie als der Durchschnitt?
Das habe ich mich nie gefragt. Es ist eher so, dass mein natürlicher Arbeitszustand der Flow ist. Dabei vergesse ich alles um mich herum. Wenn mir etwa beim Schreiben eine gute Formulierung gelingt, gibt mir das wieder Energie für die nächste halbe Stunde. Davon abgesehen, bin ich eine fanatische Wissensvermittlerin: Was in meinem Kopf ist, möchte ich weitergeben. Deshalb habe ich auch heute noch öfter 16- bis 20-stündige Arbeitstage. Meinen Studiengang über die Kultur Europas habe ich mir zum Beispiel selbst erarbeit. Er umfasst immerhin zweieinhalb Jahrtausende.
Was hat Sie an diesem Projekt gereizt?
Ich möchte einen Kontext schaffen, damit die Menschen Wissen einordnen können und nicht nur neue Informationen speichern. Ein Beispiel dafür ist das aktuelle Semester über das moderne Europa, wo man erkennen kann: Aha, deswegen verhalten sich die Deutschen aus unserer Sicht manchmal komisch! Ach, darum ticken die Italiener so! All das kann man anhand der Geschichte wunderbar aufzeigen. ich möchte meinen Zuhörern Aha-Momente am laufenden Band bescheren.
Fällt Ihnen ein persönlicher Aha-Moment ein?
Meine beste Freundin hat mich fünf Jahre lang bearbeitet, meine Autobiografie zu schreiben. Fünf Jahre lang habe ich immer wieder Nein gesagt, weil es mir unangenehm war, mich so sehr zum Mittelpunkt zu machen. Bis ich realisierte, dass ich das Ganze ja ironisch abhandeln könnte. Und dann hat es geklappt.
Sie haben 2007 ein Master-Studium über Angewandte Ethik an der Universität Zürich abgeschlossen. Wie ist es, mit Ende 60 noch mal zu studieren?
Schwierig! Als ich diesen damals neuen Studiengang entdeckte, dachte ich, da hat jemand was für mich erfunden, und meldete mich sofort an. Aber ich hatte unterschätzt, wie anspruchsvoll es ist, sich in ein neues Fach einzuarbeiten. Gerade Philosophie hatte mich als Pragmatikerin immer gelangweilt, aber das erste Semester war weitgehend Philosophie. Anfangs las ich jeden Essay dreimal und verstand wenig bis nichts. 30 Jahre hatte ich Philosophie erfolgreich ignoriert, was sich jetzt rächte. Aber dann entdeckte ich plötzlich die Griechen für mich, mit ihrem Demokratieverständnis und ihrer eigentlich sehr modernen Ethik. Danach ging alles leichter. Das Studium war anstrengend, weil ich daneben voll arbeitete. Aber unglaublich bereichernd, je mehr Puzzleteile an den richtigen Ort fielen.
Welche neuen Erkenntnisse hat es Ihnen gebracht?
Ich habe ein noch wacheres Auge für ethisches Verhalten. Ich kann die Mechanismen von Macht besser offenlegen. Und ich bin eine überzeugte Advokatin von Nachhaltigkeit geworden und versuche, auch im Alltäglichen ökologisch bewusster zu leben. Um ein kleines Beispiel zu nennen: Wenn ich gekochte Eier kalt abschrecke, geht das Wasser danach in die bereitgestellte Giesskanne für die Balkonblumen.
Was macht Sie glücklich?
Denken. Konzepte erstellen und Umsetzungsmöglichkeiten testen. Ich hatte nie den Wunsch, ein Haus oder ein Segelboot zu besitzen. Vier Wochen Karibik wären für mich wie Strafkolonie. Aber ich habe seit 35 Jahren ein Opernabonnement, eine Arie kann mich in höhere Sphären versetzen. Und ein schöner Wein zum Essen gehört bei mir auch dazu. Ich bin im Herzen wohl Italienerin.
Dr. Monique R. Siegel, 72, ist gebürtige Berlinerin. Mit Anfang 20 wanderte sie nach New York aus, wo sie in Germanistik promovierte und anschliessend arbeitete. Seit 1971 lebt sie in Zürich und engagiert sich in der Erwachsenenbildung. Mehr unter www.siegel.ch.