Trends haben die kosmopolitische Kleiderarchitektin Christa de Carouge nie interessiert. Klare Aussagen umso mehr. Dieses Jahr wird sie 75. Wie sich das anfühlen soll, ist ihr ein Rätsel.
EMOTION: Was war das einschneidendste Erlebnis Ihres Lebens?
Christa de Carouge: 1984 war ich für fünf Wochen in Kyoto, um den Kimono zu studieren. Da habe ich einen Tag mit Mönchen in einem Zen-Tempel verbracht und liess mir von ihnen ihre Kleiderphilosophie erklären. Sie waren sehr aufgeschlossen, gar nicht stumm, sondern sehr, sehr lustig. Hierzulande ist der Zen-Buddhismus ja eher eine traurige, sektiererische Angelegenheit. Ich sah, wie bewusst sie lebten, und spürte: Diese Menschen nehmen ihr Leben in die Hand und machen das Beste daraus – und zwar direkt. Ich bin auch ein direkter Mensch und mag es, wenn mein Gegenüber direkt ist. Diese Reise hat meine Kollektionen geprägt, meinen Sinn für Ästhetik und das Essenzielle beflügelt. Mir wurde klar, ich bin auf dem richtigen Weg.
Den haben Sie Jahre später auch in der Liebe gefunden. Ein Coup de foudre, ein Gefühl, das wie ein Blitz einschlug.
Ja, das war wie im Roman. Ich hatte zwei Ehen hinter mir, 13 Jahre allein gelebt und mit dem Thema Liebe abgeschlossen. Und dann taucht plötzlich ein Mann auf, der sich in dir sieht und du dich in ihm. So ging es André und mir. Die Liebe meines Lebens. Dass sie mir mit 65 begegnete, konnte ich kaum fassen. Wir waren fast zehn Jahre zusammen. Die letzten drei kämpften wir mit seiner Krebserkrankung. Das war sehr schwer, sehr brutal. Zumal er immer gesagt hat, er werde bei mir bleiben, bis ich sterbe. Er war ja viel jünger als ich.
Fühlten Sie sich von ihm im Stich gelassen?
Es gab durchaus Momente, in denen ich dachte: Du Schlaumeier, mich einfach so hockenzulassen! Aber Gott sei Dank konnte er schliesslich gehen.
Sie wirken heute sehr glücklich. Was hat Ihnen über den Verlust hinweggeholfen?
Meine Arbeit. Ich habe nach seinem Tod eine sehr kreative Phase erlebt. Die grosse Trauer war vorher. Natürlich fehlt mir seine Liebe. Die Kommunikation. Wir hatten es so lustig miteinander. Allein vor dem Teller sitzen ist traurig. Aber ich glaube, André hat mir die Kraft zum Weiter-machen gegeben. Meine Sachen gefielen ihm wahnsinnig gut. Er trug sie ja auch. Viele dachten, wir seien Geschwister, weil wir so symbiotisch waren.
Vergangenes Jahr haben Sie mal gesagt, Sie hätten keine Ahnung, wie es sei, 74 Jahre alt zu sein. Haben Sie heute eine Idee?
Ich weiss es immer noch nicht! Einer meiner Brüder hat unserer Mutter zu ihrem 100. Geburtstag eine Bildserie gemacht. Eine Aufnahme zeigt sie mit meiner Grossmutter, die damals 69 war und auf dem Bild uralt aussieht. Wenn ich mich mit ihr vergleiche, komme ich mir vor wie ein Girlie. Heute hast du kein Alter, wenn es dir gut geht, du im Kopf beieinander bist, wenn du dich freuen kannst, rennen und dich für Neues interessierst.
Woher haben Sie Ihre Energie?
Meine Mutter ist inzwischen 102 und ich habe sie noch nie klagen gehört. Wenn sie hinfällt, steht sie auf und geht weiter. Diese Gene habe ich geerbt. Das ist ein grosses Privileg. Deshalb mag ich auch keinen Firlefanz im Leben. Das Leben hat mir durchaus zugesetzt. Doch in mir war es immer ganz klar. Das zeigt sich auch in meinen Kollektionen. Volants und Bubikrägen waren nie mein Ding.
Ihre Sommerkollektion heisst "Über den Wolken". Was hat Sie inspiriert?
Die Leichtigkeit eines weissen Kleides aus Mikrofaser. Wenn ich etwas kreiere, frage ich mich immer, wie ich es zeigen könnte. Bei der Modenschau gab es eine Performance mit vier Tänzerinnen. Am Schluss fiel das Kleid als weisse Wolke vom blauen Himmel herab. Wissen Sie, ich liebe Pina Bausch. Sie hat mit ihren Choreo grafien Geschichten erzählt. Während der Performance streifte mich der Gedanke, dass André vielleicht in den Wolken ist. Er und Pina Bausch waren mir auf einmal ganz nah. Verrückt, nicht?
Christa de Carouge, 74, ist eine Pionierin des Schweizer Modedesigns. Sie setzt auf minimalen Multifunktionalismus. Ihre Inspirationen findet sie auf Reisen durch Japan, China, Tibet und zu Nomadenvölkern. Mehr: www.christa-de-carouge.ch