Eigentlich wollten die Londoner Sarah Phllips und Richard Hurding nach Barcelona, Berlin oder Beijing. Jetzt ist ihre neue Heimat ein Nest in Brandenburg. Der Grund dafür: ein alter Wasserturm.
Beim Aussteigen knirscht Kies unter den Schuhen. Ein Feldweg führt vom Kaiserbahnhof in Joachimsthal vorbei an Bäumen, Wiesen und drei Datschen, deren Spitzdächer aussehen wie Wintermützen, die man tief in die Stirn gezogen hat. Verwunschen ist es hier in der Schorfheide, dem größten zusammenhängenden Wald Mitteleuropas. Verwunschen und einsam. Was eine quirlige Großstadtpflanze wie Sarah Phillips in dem 3000-Seelen-Dorf sucht, möchte man dann doch genau wissen.
"Hier leben viele Künstler", sagt die Ausstellungsproduzentin aus London, während sie Tee eingießt. "Maler, Filmemacher, Musiker. Man ist mitten in der Natur und gleichzeitig nur eine knappe Stunde von Berlin weg." Seit fast sechs Jahren wohnen sie und ihr Mann Richard Hurding nun schon in dem alten Wasserturm am Ende des Feldwegs. Durch die 360-Grad-Panoramafenster im sechsten Stock blickt man auf die Moränenlandschaft und den glitzernden Grimnitzsee. "Die Unesco hat diese Gegend sogar zum Biosphärenreservat erklärt", sagt die Hausherrin.
Zum Nachwohnen
Auf Seite 2 geht es weiter mit der Wohnung von Sarah Phllips ...
Buenos Aires, Barcelona, Berlin oder Beijing? Brandenburg!
#image7409left Das geometrisch gestreifte Kleid der 48-Jährigen passt perfekt zu dem Bauhausstuhl, auf dem sie sitzt – zur Geradlinigkeit der Einrichtung. Aber: Gerade Wände gibt es in den Turmzimmern kaum. Das Bücherregal, das rund um das oberste Stockwerk verläuft, ist eine
Spezialanfertigung. Schränke? Sofa? Fehlanzeige! Dabei hätte Sarah nichts gegen eine Couch. "Vor allem jetzt im Winter", gesteht sie. Doch Purist Richard ist da anderer Meinung. Kennengelernt haben sich der schottische Architekt und die britische Kunstagentin in London.
Als Richard kurz darauf nach Hongkong musste, kam Sarah nach. Drei Jahre lebten sie in der Metropole. Danach wussten sie: Das machen wir noch mal – in einer fremden Stadt gemeinsam neu anfangen. Nur wo? In engerer Auswahl waren: Buenos Aires, Barcelona, Berlin und Beijing. Dass dann ein fünftes B das Rennen machte, nämlich Brandenburg, war Zufall. Die beiden starteten eine Art Weltreise. In Barcelona planten sie in Gedanken bereits eine Whisky-Bar. In Berlin liebten sie die vielen Galerien.
Eine Fahrradtour
#image7408left Richard wollte auch die Umgebung der Städte kennenlernen und unternahm Fahrradtouren. Auf einem dieser Ausflüge entdeckte er den leer stehenden Wasserturm. "Er sah ihn nur kurz, hielt nicht mal an", sagt seine Frau, "aber der Bau ging ihm nicht mehr aus dem Kopf." Es war ein Mittwoch, als das Pärchen mit einer Freundin – "wir sprachen damals kein Wort Deutsch" – in Joachimsthal auftauchte, um sich über die Ruine zu informieren.
"Ich erinnere mich genau, denn alle Ämter hatten geschlossen", lacht Sarah. Die Verhandlungen dauerten Monate: Das Gelände gehörte der Treuhand, der Turm der Stadt. "Wir mussten ein Konzept vorlegen, von dem auch die Einwohner etwas hatten", erzählt die Hausherrin. So entstand die Idee zu ihrem Projekt "Bio rama": eine Aussichtsplattform für die Öffentlichkeit, die den gleichen Panoramablick bietet wie das Wohnzimmer. Sie bauten neben den alten, runden Turm aus Stahlbeton einen neuen, eckigen, dessen oberer Teil aus Glas besteht. Drinnen ist ein Fahrstuhl, draußen schlingt sich eine breite Treppe spiralförmig um das Gebäude. Was man von hier oben sieht? Die Kirche in Joachimsthal, 1820 von Friedrich Schinkel erbaut, die Wälder hinterm Grimnitzsee, die schon zu Polen gehören, den Berliner Fernsehturm. 80.000 Besucher waren schon hier.
Auf Seite 3 geht es weiter mit der Wohnung von Sarah Phillips ...
Englischer Minimalismus
#image7410left In den ehemaligen Wasserturm wurden sechs Ebenen eingezogen, von denen vier jeweils nur einen einzigen Raum beherbergen: Küche, Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer. "Die Küche war der alte Wasserkessel", erzählt Sarah. Den Esstisch, den man zu einer langen Tafel ausklappen kann, hat sie aus London mitgebracht. In den Regalen hinter den flachen Betonsäulen – "die sind wichtig für die Statik" – entdeckt man Produkte aus Sarahs Heimat. Was sie in Deutschland vermisst? "Guten Cheddar-Käse."
Nächstes Projekt: Ein kleines Café
Bis alles an seinem Platz stand, dauerte es Jahre. Und weil Beton die Feuchtigkeit hält, herrschte in den Zimmern lange eine klamme Atmosphäre. "Wenn ich morgens meine Jeans anzog, fühlte sich das an, als sei sie gerade aus der Waschmaschine gekommen", erzählt Sarah. Längst hat sie den Räumen Wärme verliehen, ohne die Klarheit zu verwischen. Durch Pflanzen, viele verschiedene Lichtquellen und persönliche Details wie ihre Katzensammlung. Mit dabei natürlich auch die asiatische Winkekatze: "Bewegt sie den linken Arm, bringt sie gute Freunde", erklärt Sarah. "Winkt sie rechts, verspricht das Glück und Geld."
Gar nicht minimalistisch ist auch der bauchige Sessel im Wohnzimmer. Ein Unikat aus dem Stoff Zelfo – noch ein Projekt der Hausherren. "Wir haben das Patent für das Material erworben", sagt
Sarah. Es besteht aus Wasser und Zellulose und ist komplett abbaubar. Wie Papier, aber viel stabiler. Was man daraus machen kann? "Fliesen, Möbel, Gitarren, alles Mögliche!" Und als ob das nicht reichen würde, warten noch weitere Aufgaben auf die Bewohner: Die kleine Vill im Garten, die bisher als provisorische Galerie diente, braucht ein neues Dach. "Außerdem wollen wir ein Café eröffnen", sagt Sarah. Es soll ausschließlich Produkte der Region anbieten und nur tagsüber Betrieb haben: "Damit es keine Konkurrenz zu den Gasthöfen der Gegend ist." Hier haben sich zwei niedergelassen, die Weitblick haben – nicht nur von ihrem Wohnzimmer aus.