Der Psychologe und Autor Stephan Grünewald hat anhand tiefenpsychologischer Interviews die Beziehung der Deutschen zu ihrer Arbeit untersucht. Seine Diagnose: Wir flüchten uns in besinnungslose Betriebsamkeit.
Herr Grünewald, im Ausland haben die Deutschen den Ruf, ein besonders fleißiges Volk zu sein, das für die Karriere schuftet bis zum Umfallen und darüber vergisst, das Leben zu genießen. Sind wir so arbeitswütig?
Ja. Dahinter steckt eine Art gesamtgesellschaftliche Identitätsstörung. Unsere Studien belegen, dass den Deutschen etwas ganz Wesentliches fehlt: ein klares Lebensbild.
Das müssen Sie genauer erklären.
Die Franzosen zum Beispiel, die haben solch ein inneres Bild, das unbewusst Regie in ihrem Leben führt. Es hat etwas mit Genuss zu tun, mit dem Motto: "Leben wie Gott in Frankreich". Dieses Bild gibt ihnen Orientierung und strukturiert den Alltag, denn aus ihm lässt sich beispielsweise ableiten: Du sollst regelmäßig ausgedehnte Pausen machen, im Kreise von Familie und Freunden genüsslich speisen und es ist wichtig, dass deine Kinder schon in der Schule kochen lernen und die Namen von 150 Käsesorten kennen. Solch ein strukturierendes Lebensbild haben die Deutschen nicht.
Und was hat dieses Manko mit unserem übertriebenen Arbeitsethos zu tun?
Ohne diese Orientierungshilfe sind wir in einem permanenten Zustand der Rastlosigkeit und Sinnsuche. Es sei denn, wir können diese innere Unruhe produktiv umsetzen, in einem schöpferischen Arbeitsprozess. Dann finden wir zu uns selbst. Ich nenne das "Aufgehen im Werkeln". Damit ist eine Tätigkeit gemeint, die nicht unbedingt zweck- und zielgerichtet sein muss, eher ein Herumwurschteln wie im Hobbykeller, in der Garage oder im Garten. Diese Sehnsucht nach Werkeln, die ist etwas typisch Deutsches.
Aber die meisten von uns arbeiten ja nicht nur aus dem Drang heraus, sich irgendwie zu beschäftigen. Beruflicher Erfolg hat in unserer Gesellschaft einen extrem hohen Stellenwert.
Wenn man kein inneres Lebensbild hat, das einen leitet, dann kann Geld oder Karriere natürlich ein Ersatzziel sein. Ich finde es allerdings erstaunlich, dass die Deutschen immer wieder bereit sind, ihre Orientierungslosigkeit zu kompensieren, indem sie sich willig in das Hamsterrad der Arbeitsprozesse stellen und unermüdlich weiterstrampeln. Obwohl doch so viele unzufrieden sind mit diesem Zustand!
Wie erklären Sie dieses Phänomen?
Die Menschen finden es zwar schlimm, dass sie so viel arbeiten müssen. Aber wenn sie aus dem Hamsterrad aussteigen, an einem Sonntag zum Beispiel, und dann plötzlich feststellen, dass sie gar nicht wissen, wofür sie eigentlich arbeiten, wenn dann unvermittelt all die ungelösten Probleme und Sinnfragen auf sie hereinstürzen – dann ist das mitunter noch viel schlimmer. Und sie steigen schnell wieder ein ins Hamsterrad, weil sie sich in dieser besinnungslosen Betriebsamkeit wenigstens nicht mit sich selbst und ihren ungelösten Lebensfragen beschäftigen müssen.
Wir haben also aus einem Fluchtverhalten heraus die Grundhaltung angenommen "Ich lebe, um zu arbeiten"?
Es ist noch drastischer: Der durchschnittliche Deutsche kann diesen Satz gar nicht sagen! Denn das wäre ja zumindest ein Lebensbild. Aber: Er weiß gar nicht, wofür er lebt! Er vergewissert sich einfach seiner Existenz, indem er arbeitet. Und wenn er das auch nur vorübergehend nicht mehr kann, purzelt er in ein Sinnvakuum.
Fallen nicht die meisten Menschen ohne Beschäftigung in ein Loch?
Es gibt durchaus unterschiedliche Wege, mit der Situation umzugehen. Wir haben das vor kurzem bei den Amerikanern untersucht. Eigentlich sind die ja durch die Wirtschaftskrise noch viel stärker gebeutelt als wir, aber sie versinken nicht in Jammerei, sondern sagen sich: Okay, dann muss ich jetzt eben noch mal von vorn anfangen oder mich beruflich umorientieren. Dahinter steht der American Dream, denn er beinhaltet das Lebensbild: "Wenn du etwas wirklich willst, dann kannst du es auch schaffen." Für Deutsche, die ihren Job verlieren, bricht hingegen eine Welt zusammen.
Aber verändert sich nicht auch hierzulande gerade die Einstellung zur Arbeit, weil wir merken, dass beruflicher Erfolg eine instabile Sache ist?
Es gibt immerhin Ansatzpunkte. Gerade bei Managern, die bisher wie selbstverständlich 14 Stunden am Tag geschuftet haben, ist jetzt auf einmal ein Innehalten spürbar. Dieses Dauerarbeiten ist ja auch immer von der Hoffnung angetrieben, dass es irgendwann einmal besser wird, dass man sich durch den Einsatz etwas verdient, nicht nur finanziell: Irgendwann mache ich dann mal den Traumurlaub, irgendwann kann ich das Leben genießen. Und jetzt spürt man plötzlich: Ich weiß gar nicht, ob diese Belohnungsphase jemals eintritt! Dieses Bewusstsein ist ein erster Entwicklungsschritt.
Können wir Deutsche denn noch ein Lebensbild und eine Alternative zum Hamsterrad entwickeln? Oder sind wir ein hoffnungsloser Fall?
Gesellschaftliche Lebensbilder entstehen häufig durch Generationenkonflikte, wie etwa die 68er-Bewegung. Sie stand für Freiheit und Frieden, für die Rebellion gegen die konventionellen Werte der Eltern. Heute gibt es ja kaum noch etwas, gegen das sich die Jugend auflehnen könnte, deshalb fehlt auch der Motor für ein neues Lebensbild. Doch zumindest kann die Wirtschaftskrise für jeden ein Anstoß sein, sich endlich aus der besinnungslosen Betriebsamkeit zu lösen – und dann in sich hineinzuhorchen, mit welcher Art von Leben man die gewonnenen Freiräume eigentlich füllen will.