Nicht nur Kinder sagen gern "Das war ich nicht" und zeigen mit dem Finger auf andere. Auch bei Erwachsenen ist die Methode beliebt. Unsere Kolumnistin entschuldigt sich dafür jetzt ausnahmsweise mal.
Ich erwarte Gäste, also ist der Kühlschrank voll. Ich komme nachmittags nach Hause, die Zeit drängt, der Kühlschrank ist halb leer. Die Trüffelsalami, der Taleggio-Käse, das Nougatparfait, alles weg. Bis auf ein paar Krümel und ein paar Fettflecke. Mein Wutausbruch hat vermutlich die Trommelfelle der gesamten Nachbarschaft gesprengt, als ich die Zimmer meiner Kinder stürme: "Wer von euch war am Kühlschrank?"
"Der Vielfraß ist ja wohl mein fetter Bruder!"
"Ich nicht", sagt mein Sohn, "ich mag ja nur Gesundes." "Wieso fragst du mich", ruft meine Tochter empört, "der Vielfraß in der Familie ist ja wohl mein fetter Bruder!" Tatbestand und Tatort waren eindeutig, trotzdem kreischten beide: "Ich war es nicht!" Okay, diese Szene, die übrigens nie auf- geklärt wurde, ist ein paar Jahre her, meine Kinder waren noch jung, und ich erzähle sie nur deshalb, weil sie so typisch ist - menschlich, wenn nicht allzu menschlich. Weil nicht nur kleine Menschen sofort "Ich war's nicht!" rufen, sondern auch große: Politiker, Ärzte, Bischöfe. Diese Urangst, dass Mami böse wird und einen bestraft, die bleibt irgendwie hartnäckig in uns stecken - egal ob Männlein oder Weiblein. Schramme beim Einparken verursacht? Mit Lippenstiftspuren am Kragen erwischt? Wer hat gefurzt? Ich war’s nicht! Es ist nicht allein die drohende Nerverei mit der Versicherung oder mit einer zornigen Ehehälfte, die uns davon abhält, einfach zuzugeben, dass wir Mist gebaut haben.
Eine Prise Feigheit
Es ist auch ein ganz normaler Fluchtinstinkt, sagt eine befreundete Psychologin. Beim Erwischtwerden schütten wir Adrenalin aus und schützen uns mit Abwehr vor der drohenden Gefahr - wobei wir diese in unserer Panik meist überschätzen. Es sind irrationale Ängste, ver- mischt mit einer Prise Feigheit, die eine lästige Situation in der Folge oft viel unerfreulicher machen, als ein schlichtes Geständnis es je könnte. Ich schäme mich zum Beispiel noch heute, wenn ich an die teure Vase denke, die ich als Studentin mit einer ungeschickten Bewegung aus dem Regal wischte, das ausgerechnet in der Wohnung des jungen Mannes stand, in den ich damals wahnsinnig verliebt war. Während er in der Küche pfeifend einen guten Wein für uns aufmachte, setzte ich hektisch die Vase wieder so zusammen, dass man auf den ersten Blick nichts merkte. Auf den zweiten aber schon: "Guck dir das an! Irgendjemand hat meine Vase fallenlassen und kaputt wieder ins Regal gestellt", sagte der Mann meiner Träume etwas später sauwütend. "Was für ein Arschloch macht so was?" Mit klopfendem Herzen tat ich genauso empört.
"Ich hab Mist gebaut, es tut mir leid"
Es ist leider so: "Ich hab keine Schuld" ist ein sehr beliebter zweiter Vorname. Die Landtagswahl verloren, weil der Gegenkandidat einfach besser war? Ach was, die Wahlbeteiligung war schlecht. Im Bauch des Patienten eine blutige Mullbinde vergessen? Da hat bestimmt wieder ein Kollege geschlampt. Der riesige Wasserschaden im Bad, weil da jemand in der Wanne eingeschlafen ist? Absolut keine Ahnung, wie das passieren konnte, da muss schon vorher was undicht gewesen sein. So werden Anwälte reich. Wäre unser Zusammenleben nicht viel harmonischer, wenn wir, nachdem wir einen Fehler gemacht haben, egal ob winzig oder riesig, einfach nur "Ich hab Mist gebaut, es tut mir leid" sagen würden? Es hätte nämlich wirklich schlimmer kommen können.
Evelyn Holst hält Ausschau. Hinter dem Fenster ihrer Hamburger Wohnung. Und natürlich vor der Haustür. Immer wieder stellt sie fest: Es gibt keinen Grund zum Jammern. Es sei denn …