Es ist nicht gerade die Lieblingsbeschäftigung unserer Kolumnistin, leise vor sich hinzuknittern. Aber sie schaut gelassen in die Zukunft – auch weil das den Blick aufs Jetzt so milde macht.
"Mein ganzes Leben war Aufbruch, Zukunft, Lebenslust"
Das große, gerahmte Foto in unserem Flur zeigt eine hübsche, blonde, sehr schlanke Frau, die ein braunhäutiges Baby in die Luft wirft, während im Hintergrund das Mittelmeer schimmert. "Das Leben ist schön!", jubelt dieses Bild, und immer, wenn ich es betrachte, werde ich ein bisschen sehnsüchtig. Denn die Frau auf diesem Foto bin ich, und das Baby ist meine Tochter Lea, die ich in Brasilien adoptiert habe. Sie war 14 Monate alt, es war unsere erste gemeinsame Reise nach Imperia in Ligurien, und mein ganzes Leben war Aufbruch, Zukunft, Lebenslust. Jeder Tag eine Wundertüte, voller Überraschungen, fast immer gute.
Ich bin, wer ich bin, auch wenn ich älter werde
"Mensch, was sahst du damals gut aus", sagte kürzlich eine Freundin, ein Kompliment so süß wie eine in Essig getunkte Zitrone. "Tja, wir werden alle nicht schöner", erwiderte ich. Der Tag war gelaufen. Das Menschliche am Älterwerden ist ja, dass uns der Zahn der Zeit in den meisten Fällen nicht brutal und plötzlich, sondern eher langsam und zärtlich benagt. Wer nicht ständig bei greller Beleuchtung in den Spiegel schaut – und wer von uns tut das schon? –, der knittert leise vor sich hin und ignoriert sie einfach, die kleinen Fältchen und Pölsterchen, denen es völlig egal ist, dass sie höchst unwillkommene Gäste sind. Genau deshalb setzen meine alten Fotoalben Staub an. Und deshalb poste ich keine uralten Profilfotos von mir, was eine Freundin mit ihren Bildern gern macht. Ich will nicht bedauern, dass ich nicht mehr so knackig wie vor 30 Jahren bin. Ich will mich über die Frau freuen, die ich jetzt bin. Ein solider Gebrauchtwagen mit ein paar Kratzern und Beulen, aber noch voll funktionstüchtig. "Ab 50 morgens aufzuwachen und seinen Körper nicht zu spüren, das sind sechs Richtige im Lotto", sagt mein Hausarzt.
Alte Zeiten zurücksehnen
Das heißt: Ich bin Lottokönigin. Aber es ist ja nicht nur die schwächelnde Optik, die einen manchmal so nostalgisch macht, es ist auch das schwächelnde Lebensgefühl. Der Horizont ist nicht mehr grenzenlos, die Erwartungen ans Leben werden bescheiden: "Ich bin schon froh, wenn
nichts Schlimmes passiert", sagt eine Freundin. Und manchmal kommt es wirklich dicke. Steuernachzahlung, Schulstress, erhöhte Blutfettwerte, Knöllchen – schlechte Nachrichten fühlen sich am wohlsten, wenn sie einem im Gesamtpaket die Laune vermiesen können. Sie treten deshalb oft im Cluster auf.
Das Gute? So verschwinden sie auch wieder. Genauso wie unsere Falten im Kerzenschimmer. Denn genau das Leben, das sich jetzt manchmal wie ein zu enger Kratzepulli anfühlt, ist das, nach dem wir uns in zehn Jahren zurücksehnen. Und wenn wir jetzt, in diesem Moment, ein Foto von uns machen und gerahmt an die Wand hängen, werden wir in zehn Jahren sagen: "Mann, sah ich damals gut aus!" Warum uns also immer nur in der Retrospektive gut finden, warum nicht immer? Denn es hätte schlimmer kommen können.
Evelyn Holst ist Expertin für Klartext. Und für Humor (hat viel davon), Familie (hat selbst eine) und Frauen (ist ja eine). Ihr Lebensmotto: Es gibt keinen Grund zum Jammern. Es sei denn...