Geduld ist nicht gerade die Stärke unserer Kolumnistin. Wenn’s schnell geht, findet sie das sehr beruhigend. Und so war ihre Übung in Schneckentempo auch alles andere als freiwillig
Meine Tochter sagt, ich sei die einzige Frau, die im Stechschritt durch ihre eigene Wohnung rennt. Sie meint dies nicht als Kompliment. Ich fürchte, sie hat recht. Ja, ich bin eine Frau in Eile. Eine, bei der es schnell gehen muss. Die ungeduldig seufzt, wenn vor ihr an der Supermarktkasse eine ältere Frau mit den Worten "Moment, ich glaub', ich habe es passend" gefühlte drei Tage nach dem Kleingeld fingert und es dann doch nicht passend hat. Oder jemand an der Kinokasse tiefenentspannt überlegt, ob er lieber in Reihe sieben Platz eins oder Reihe fünf in der Mitte sitzen möchte.
Ungeduld und Pünktlichkeit
Ich weiß ja, wie unhöflich es ist, dann laut zu seufzen und "Geht’s hier bitte noch mal weiter?" zu rufen. Aber ich kann es nicht ändern. Der liebe Gott hat mir diese zwei Macken mit auf die Welt gegeben: extreme Ungeduld und noch extremere Überpünktlichkeit. Letztere lässt meinen genau gegensätzlichen Ehemann bei jeder Reise erwägen, ob nicht ein gezielter Stoß vom Balkon auch eine gute Lösung wäre. Er hält es nämlich für Lebenszeitverschwendung, wenn man nicht als Allerletzter das Flugzeug besteigt, sondern, wie ich, zwei Stunden vor dem Abflug zum Flughafen fährt. Und dort sogar noch in Ruhe einen Kaffee trinkt.
Eile mit Weile
Leider haben Ungeduld und Überpünktlichkeit eine hässliche, nervige Stiefschwester, die Hektik. Wie mir der abgebrochene Regenschirm verrät, den ich vorige Woche zerlegte, weil ich in der Eile die Autotür zuschlug, während der Schirm noch in der Tür steckte. Ich wäre gern entspannter, so wie eine Freundin von mir, die sich nie aufregt. Nie. Kürzlich steckten wir auf dem Weg zum Hauptbahnhof im Taxi im dicken Stau, es war 16.17 Uhr. Unser Zug zu einem wichtigen beruflichen Termin ging um 16.30 Uhr.
Gelassenheit ist eine Zier
Ich hyperventilierte, sie sagte: "Im Moment sind doch alle Züge verspätet, warum nicht auch dieser?" Und sie hatte recht. Der Zug hatte eine Stunde Verspätung. Ich bin sicher, wäre ich allein gefahren, der Zug wäre weg gewesen. Vor ein paar Monaten eilte ich durchs Treppenhaus und stolperte über eine Bierkiste. Die Fuß-OP legte mich für mehrere Wochen lahm. Ich ging an Krücken, musste das Bein hochlegen
und meine Grundgeschwindigkeit auf Schneckentempo reduzieren. Aufstehen, duschen, anziehen - alles dauerte eine Ewigkeit.
Die Entdeckung der Langsamkeit
Ich machte mich wahnsinnig. Nach einer Woche hielt ich es nicht länger aus und schlurfte mit meinen Krücken zum Einkaufen. Die Ampel stand auf Grün, als ich begann, die Straße mit kleinen, vorsichtigen Mäuseschritten zu überqueren. Nach ein paar Metern sprang sie auf Rot, ein wütendes Hupkonzert fing an, eine Autofahrerin rief: "Mensch, Alte, schlaf nicht ein!" Tja, so fühlt sich Ungeduld an, wenn sie von der Gegenseite kommt. Ungemütlich. Vor allem sinnlos, denn ich schlich ja nicht aus Bösartigkeit so langsam über die Straße. Geht denn wirklich die Welt unter, wenn man mal ein bisschen warten muss? Es hätte schlimmer kommen können.
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Evelyn Holst ist Expertin für Klartext. Und für Humor (hat viel davon), Familie (hat selbst eine) und Frauen (ist ja eine). Ihr Lebensmotto: Es gibt keinen Grund zum Jammern. Es sei denn...