Wenn sich Christina Jaccard als Kind allein fühlte, hat sie die Platten ihrer Eltern nachgesungen. Da war die Musik für sie da. Heute ist sie für die Lieder da. Ihr Ziel: jedem Stück die Stimme zu geben, die es braucht.
EMOTION: Haben Sie vor Auftritten Lampenfieber?
Christina Jaccard: Nicht mehr. Früher litt ich furchtbar darunter. Besonders wenn ich bei Hochzeiten oder Beerdigungen in einer Kirche sang. Diese Verantwortung! In mir war eine kindliche Angst, vom lieben Gott bestraft zu werden, weil ich nicht gut genug sein könnte. Heute bin ich nur noch
selten nervös, höchstens ein bisschen, etwa wenn ich am Bluesfestival in Basel vor 800 Leuten singe. Die muss ich schliesslich mit meiner Präsenz und Ausstrahlung erreichen.
Hat Sie die alte Aufregung wieder eingeholt, als Sie Ihr erstes Buch vorstellten? Immerhin fangen die Gedichte Ihre innersten Gedanken aus 15 Jahren ein, eine Art Tagebuch. Brauchte es Mut, das öffentlich zu machen?
Für die Ideen und Gedanken, die ich aufgeschrieben habe, wäre ich vor ein paar 100 Jahren als Hexe verbrannt worden. Aber ich war dennoch nicht aufgeregt.
Weil ich zu 100 Prozent ich selbst war, im Buch und in dem, was ich vorgelesen habe. Entweder mögen es die Leute oder sie mögen es nicht.
Das Titelgedicht handelt von einer Auster, die Angst hat, sich zu öffnen. Sie erscheinen eher sehr extrovertiert. Wie viel Auster steckt in Ihnen?
Mit dem Buch hat sich die Auster in mir geöffnet und die Perle ist herausgekommen. Ich bin intellektuell sehr extrovertiert und seelisch sehr introvertiert.
Ich brauche lange, um mich wirklich zu zeigen. Den Titel verdankt das Buch übrigens meinem Homöopathen. Er verschrieb mir mal Austernextrakt und sagte: "Das öffnet deine harte Schale." Ich fand, das passt gut zum Buch.
Das Leben Ihrer Auster wendet sich, als sie müdegekämpft an Land geschwemmt wird und endlich ihre Perle freigibt. Gab es bei Ihnen einen ähnlichen Moment?
Der grösste Wendepunkt in meinem Leben war die Trennung von meinem letzten Partner. Da war ich Mitte 50 und fühlte mich auch an Land geschwemmt,
allein. Das wurde ich ja immer wieder mal in meinem Leben. Aber dieses Mal in besonderem Mass. Ich spürte, dass ich in ein Alter kam, in dem ich eine neue Schicht in mir freilegen musste. Wie soll ich das schaffen, fragte ich mich. Denn mir war so bewusst geworden wie nie zuvor, dass ich alles im Alleingang mache: Sängerin,
Gesangspädagogin, Astrologin, Autorin …
Was hat Sie da rausgeholt?
In der Musik kann ich meine Gefühle so richtig ausleben. Im Alltag geht das nicht so gut, ich brauche schon eine Bühne dafür. Mit den Leuten, mit denen ich arbeite, muss ich schliesslich Distanz halten. Und im Bekannten- und Freundeskreis bin ich eher zurückhaltend. Beim Singen kommen für mich Körper, Seele und Geist zusammen. Das gibt mir ein grosses Gefühl von Erfüllung.
War Musik schon immer Ihre Rettung?
Ich habe aus Einsamkeit angefangen zu singen, damals als kleines Mädchen. Immer wenn ich allein war, tauchte ich in die Plattenwelt meiner Eltern ein und sang alles nach. Das hat mir sehr viel gegeben.
Hat sich die Art, wie Sie Musik machen, mit den Jahren gewandelt?
Je länger ich Musik mache, desto mehr geht es mir um die Sache und weniger um mich selbst. Inzwischen ist mir unwichtig, wie mich die Leute finden. Natürlich mache ich mich vor einem Auftritt schön. Aber ich überlege mir nicht mehr, wie ich ankomme oder wie ich meine Stimme präsentieren soll, damit alle merken, wie toll sie ist. Für mich steht heute im Zentrum, welche Stimme ein bestimmtes Stück von mir braucht. Ich singe fürs Lied und nicht das Lied für mich.
Wo möchten Sie musikalisch noch hin?
Ich möchte die Menschen im Innersten berühren. Und hoffe, dass es mir gelingt, meine Gedanken aus den Austerntexten in eigene Songs zu verpacken.
Christina Jaccard, 58, singt Gospel und Blues, unterrichtet Gesang und blickt als Astrologin in die Sterne. Soeben ist "Die Auster" erschienen, das erste Buch der Zürcherin. www.voicejaccard.ch