So kannst du Krisen bewältigen: Probleme in Job- und Privatleben lösen, indem man sie zeichnet – Sabine Mertens, Coach, Kunst- und Psychotherapeutin, setzt auf die Macht der Bilder.
Krisen bewältigen – neue Strategien
Wie wir Krisen bewältigen, ist sehr individuell. Es gibt aber Techniken, mit denen generell gute Erfahrungen wurden. Visualisierung gehört dazu. Sabine Mertens, Coach, Kunst- und Psychotherapeutin, verrät uns, wie es funktioniert.
EMOTION.DE: Der Trend zum Zeichnen und Ausmalen ist ungebrochen. Malbücher für Erwachsene laden zu Meditation und zum Abschalten ein – ist Ihre Methode vergleichbar?
Sabine Mertens: Kästchen bunt auszumalen oder Muster zu zeichnen ist für viele eine feine Sache, weil sie dabei entspannen und runterkommen. Im Coaching-Prozess spielt das Zeichnen allerdings eine andere Rolle. Es geht darum, malend oder zeichnend seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, seine Probleme zu visualisieren und zu lösen. Das hat mit Mandalas oder Ähnlichem wenig zu tun.
Wie gehen Sie dabei vor?
Ich starte während des Gesprächs gern mit einem spontanen, kleinformatigen Resonanzbild. Wenn ein Klient eine bildhafte oder ungewöhnliche Formulierung benutzt, beispielsweise "Ich fühle mich wie das Kaninchen vor der Schlange" – dann lasse ich ihn das zeichnen, um sein Gefühl sichtbar zu machen. Das Bild gibt dann nicht nur die Metapher wieder, sondern enthält viele unbewusste Aspekte, die wir gemeinsam ergründen: Wie und in welchem Größenverhältnis stehen Kaninchen und Schlange zueinander, welche emotionale Stimmung vermitteln die Figuren, in welcher Umgebung findet die Szene statt usw... Der Stift in der Hand ist der Ausleger des Gefühls, die Zeichnung ein unmittelbarer visueller Ausdruck des Zustands, in dem der Zeichner sich aktuell befindet. Das Bild ist ein "Emogramm©", also eine graphische Darstellung von Gefühlen.
Wieder handlungsfähig zu werden, darum geht's beim Malen und Zeichnen.
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Viele Menschen behaupten, sie können nicht zeichnen. Wie bringen Sie diese in den Prozess?
Fast alle Kinder malen und zeichnen, weil sie so die Welt begreifen. Dass so viele Menschen im Erwachsenenalter damit aufhören, hat mit gesellschaftlichen Normen zu tun, ist aber sehr schade, weil Malen wertvolle Erkenntnisse für jeden bereit hält. Kein Gekritzel ist zu banal, um nicht in Betracht gezogen zu werden. Jede Spur zählt. Es wird etwas markiert, ein Raum, eine Grenze, ein Erlebnis, eine Erinnerung, ein Gefühl, was auch immer. Ich hatte einmal eine Klientin, die sich in einer Coaching-Stunde quälend langweilte. Die Langeweile verdeckte in diesem Fall ein Gefühl der Unzufriedenheit mit sich selbst. Ich ermunterte sie dann, einfach drauflos zu kritzeln. Ganz langsam entstand ein abstraktes Kritzelgebilde. Aber plötzlich zeichnete sie mit Schwung und Nachdruck einen Strich darunter. Es sah aus wie ein Schlussstrich. Und das war es auch. Diese Klientin hat das unzufriedenen Gefühle gezeichnet und durchlebt und sich dann davon befreit. Sie ist im Zeichnen wieder handlungsfähig geworden. Darum geht es.
Wie können Menschen in unsicheren Verhältnissen Orientierung finden, ihr Selbstvertrauen vertiefen und ihren Handlungsspielraum erweitern? Spontan gezeichnete Bilder schaffen Klarheit über ein Thema und lassen im Nu Ressourcen, Potenziale, Konflikte und Blockaden erkennen. Sabine Mertens zeigt anhand von vielen Klientenzeichnungen, wie Coaches, Berater und Trainer mit dem Zeichnen von Bildern arbeiten.
Gibt es eine Art Katalog mit dem Sie sich arbeiten?
Ja, ich beobachte z.B. Atemfluss und Körpersprache beim Malen. Wie druckvoll wird der Stift aufgesetzt, wie viel Energie wird grundsätzlich umgesetzt? Beim Bild selbst beobachte ich, ob jemand transparent gemalt hat oder opak, linear oder flächig. Zudem beschreibt die Gestaltpsychologie eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten, die ich berücksichtige. Kategorien wie: Was ist oben, was unten, im Vordergrund oder im Hintergrund, was gehört zusammen usw. Ist der Maler im Bild, und wenn ja, in der Mitte oder am Rand, groß oder klein, aktiv oder passiv? Status spielt in Bildern eine große Rolle: wo jemand steht innerhalb einer sozialen Beziehung. Wichtig ist aber, sich nicht gleich auf Bedeutungen festzulegen, sondern die Zeichnung anfangs nach ganz allgemeinen Kriterien zu beschreiben. Später bekommen die Bildelemente Bedeutungen, und die Bedeutungshoheit liegt immer beim Maler.
Du kannst den Kopf in den Sand stecken – oder in eine Schatzkiste.
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Wie kamen Sie darauf, im Coaching-Prozess Bilder zeichnen zu lassen? Als Kunsttherapeutin arbeitete ich früher in einer soziotherapeutischen Klinik. Hier sollten Suchtkranke unter anderem mit Hilfe der Kunsttherapie wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden. Dabei stellte ich fest, was für eine unglaubliche Kraft Bilder entwickeln können. Einer meiner Klienten kam mit einem halb fertigen Bild, auf dem ein Strauß den Kopf in den Sand gesteckt hatte. Das sei seine Situation, sagte er. Dann haben wir das Bild gemeinsam weiter gemalt. Am Ende steckte der Kopf nicht mehr im Sand, sondern in einer Schatzkiste. Dieser von mir angebotene Perspektivwechsel hat ihn aktiviert, das Leben als Geschenk zu nehmen und seine Möglichkeiten zu nutzen. Der Mann hat sich aus der Krise quasi heraus gemalt.
Kann man sich mit Ihrer Methode auch selbst coachen?
Wenn man sich selbst gut beobachten und wahrnehmen kann, kommt man sicherlich auf das Eine oder Andere. Aber am Ende sind wir Resonanzwesen, wir brauchen das Gefühl, gesehen und anerkannt zu werden, ein Gegenüber das auf uns reagiert, mitschwingt, uns spiegelt. Erst im Dialog entstehen neue Sichtweisen. Die Perspektive des anderen lässt sich durch nichts ersetzen.
Ein Tipp für den Alltag?
Scribbeln, zeichnen, malen Sie! Führen Sie ein Bildertagebuch, wenn Sie mögen. Zu erkennen, wie die eigenen Gefühle aussehen – egal ob Unruhe, Melancholie, Wut oder Liebe – das ist immer wieder hilfreich und inspirierend!
Sabine Mertens ist Kunsttherapeutin und Psychotherapeutin HPG. Nach langjähriger Erfahrung mit Personal- und Organisationsentwicklung innerhalb von Unternehmensstrukturen arbeitet sie seit 2003 als Coach und Personalentwicklerin in eigener Praxis in Hamburg.
Info: www.sabinemertens.com
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